Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
hat mir alles erzählt. Darüber, was Jenna dir aufgetischt hat. Es tut mir leid.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Kirsty. »Wie kann es sein, dass sie sich so etwas Wunderschönes für mich ausdenkt … und dann versucht, alles wieder zu verderben?«
Er legte einen Finger an ihre Lippen. »Schsch«, sagte er. »Nicht jetzt. Diese Nacht lassen wir uns durch nichts verderben.«
Er zog sie an sich. Sie schob die Hände unter sein Jackett und löste es von seinen Schultern. Während sie sein Hemd aufknöpfte, nahm er ihr Gesicht in beide Hände. Im Licht der Kerzen trafen sich ihre Münder.
Hundertfünfzig Kilometer entfernt von Everdene betrat gerade eine kreuzunglückliche junge Frau ihre dunkle, leere Wohnung.
9
Wellenreiten
Was für ein Mann machte so etwas?
Was für ein Mann wartete, bis die Frau, die er angeblich liebte, einundvierzig war und angefangen hatte, Folsäurepräparate zu nehmen, um ihr dann zu erklären, dass es aus war, dass er eine Stelle bei einem Forschungsprojekt in Italien angeboten bekommen hatte und nicht daran dachte, sie mitzunehmen?
Nicht dass sie auf jeden Fall mitgegangen wäre, wenn er sie gefragt hätte, denn sie hatte schließlich ihren Beruf, aber sie hätte es anständig gefunden, wenn er ihr die Wahl gelassen hätte. Aber das hatte er nicht getan. Acht Jahre waren in einer Sekunde ausgelöscht. Und die schreckliche Erkenntnis, dass der Mann, mit dem sie ein Kind haben wollte, gar nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Dass er egoistisch, falsch und arrogant war. Und grausam. Fast unmenschlich grausam. Im Nachhinein war Helena heilfroh, dass sie nicht von Neal schwanger geworden war, denn als Allerletztes hätte sie gewollt, dass ihr Kind die Fähigkeit erbte, jemanden auch nur halb so tief zu verletzen, wie sie von Neal verletzt worden war.
Sie hatte ihm dabei zugesehen, wie er seine Sachen in der Wohnung zusammengepackt hatte, überrascht, wie kühl und berechnend er alles genau aufteilte, was sie gemeinsam ange schafft hatten. Am Ende hatte sie ihm gesagt, er solle einfach alles mitnehmen. Was sollten sie mit jeweils drei Espressotassen? Sollte er sie doch alle mit in seine Wohnung in Florenz nehmen, sie konnte sich sowieso nicht daran erinnern, wann sie sie das letzte Mal benutzt hatten. Sie war dafür, Tabula rasa zu machen. Sich alles neu kaufen und das als Teil des therapeutischen Prozesses begreifen. Es war ja nicht so, als hätte sie kein Geld.
Und genau das, so vermutete Helena, war wohl das Problem gewesen. Ihr Erfolg, ihr Status, ihr Prestige. Das war zu viel für sein männliches Ego gewesen.
Sie war Herzchirurgin in einer großen Klinik in Bristol. Er war Künstler und arbeitete in einem chaotischen Atelier in einer schäbigen Straße in Totterdown, das er sich mit mehreren anderen teilte. Na schön, riesige Ölgemälde in siebzehn Grauschattierungen zu produzieren war vielleicht nicht das selbe, wie mehrmals täglich am offenen Herzen zu operieren, aber deswegen war Helena sich nie als etwas Besseres vorgekommen. Die Welt brauchte Kultur ebenso nötig wie Medizin. Ohne Kunst wäre die Welt ziemlich öde und langweilig.
Wer oder was auch immer Neal den Floh ins Ohr gesetzt hatte, sie hatte ihn nicht davon abbringen können. Sie hatte getobt, sie hatte geweint, sie hatte es mit vernünftigen Argumenten versucht, aber er war eisern geblieben. Er hatte ihr nicht mal einen Grund genannt. Er rechtfertigte seine Entscheidung nicht mit einer vernünftigen Erklärung, sondern behauptete einfach, es sei besser so.
Am Abend vor seiner Abreise hatte sie versucht, ihn zu verführen. Im Bett war er immer wie Wachs in ihren Händen gewesen. Vielleicht, ganz vielleicht, würde sie ja schwanger werden, obwohl es zyklusmäßig eigentlich dafür zu früh war. Ganz »offiziell« hatten sie es noch nie probiert. Helena hatte erst vor drei Monaten die Pille abgesetzt, außerdem sollten die Aufbaupräparate anfangen zu wirken, ehe sie schwanger wurde. Aber er hatte nicht auf ihre Annäherungsversuche reagiert. Das war in all den Jahren ihrer Beziehung noch nie vorgekommen. Sie war am Boden zerstört gewesen. Ihre Kollegen hätten sich gewundert, wenn sie erlebt hätten, wie die große, mächtige Helena Dickinson – Göttin, Vorbild, Herrscherin über den OP mit eiserner Faust – auf den Knien rutschte und ihren Lebensgefährten unter Tränen anflehte, es sich noch einmal zu überlegen.
Womit zum Teufel hatte sie so etwas verdient? Es war ja nicht so, als
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