Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
Zucker wird dir guttun. Du brauchst Energie, um den Tag zu überstehen. Wer weiß, wie lange du auf den Beinen sein musst.«
Abwesend nahm Kirsty einen Keks. Kapitulieren war einfacher als aufzubegehren. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Sie konnte sich ihren Eltern unmöglich anvertrauen, ihren lieben Eltern, die sich so sehr auf diesen Tag gefreut hatten. Sie wären entsetzt, und wenn die Wahrheit einmal ans Tageslicht kam, würde sie nicht mehr über Dans Fehltritt hinwegsehen können. Ihr Vater würde ihn augenblicklich zur Rede stellen. Ihre Mutter würde in Tränen ausbrechen und gleichzeitig versuchen, sie zu trösten. Sie würden bedingungslos zu ihr halten. Sie würden sie ins Auto setzen, mit nach Hause nehmen und wahrscheinlich in ihrem alten Kinderzimmer ins Bett stecken. Kirsty malte sich die Situation aus, die unzähligen Tassen Tee, die neugierig schnuppernden Hunde, die Klaustrophobie, die Hoffnungslosigkeit.
Sie musste sich entscheiden. Wollte sie das Melodrama? Würde sie erhobenen Hauptes ihre eigene Hochzeit verlassen? Mehrere tausend Pfund in den Sand setzen, die dieses Fest gekostet hatte, ganz zu schweigen von den Flitterwochen nach Bali, die sie gebucht hatten? Es würde bedeuten, dass sie noch einmal ganz von vorne anfangen musste, dass sie wieder ein Single-Dasein führte mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden waren. Oder sollte sie Dans Fehltritt einfach übersehen? Ihr blieb ja keine Zeit, ihn zur Rede zu stellen. Bis zur Trauung war es nicht mal mehr eine Viertelstunde.
»Schätzchen«, sagte ihre Mutter, »ist alles in Ordnung? Du siehst so blass aus.«
»Lass sie mal«, sagte ihr Vater. »Ist doch klar, dass sie nervös ist.«
»Vielleicht braucht sie ein bisschen frische Luft …«
»Es geht mir gut.« Kirsty lächelte und legte den Keks weg. »Ich gehe noch mal kurz auf mein Zimmer und mache mich frisch. Um zehn vor sehen wir uns unten, Dad. Dann können wir in den Festsaal gehen. Du kannst dir ja schon mal deinen Platz suchen, Mum. Liam hat dir einen reserviert.«
Kirsty konnte es sich genau vorstellen: Dan und Liam, die die Leute zu ihren Plätzen führten und die Programme austeilten. Der Festsaal mit den Kronleuchtern, den vergoldeten Stühlen, den weißen Blumen, die sie bestellt hatte … Sie schloss die Augen, um die Tränen zu unterdrücken, als ihre Mutter sie umarmte. Ihre Mutter, die heute so ungewohnt elegant war in ihrem korallenroten Kostüm.
»Du siehst großartig aus, Mum«, sagte Kirsty. Sie wusste nicht, ob der Kloß im Hals daher rührte, dass sie so stolz war auf ihre wundervollen Eltern, die zu ihr halten würden, egal, wie sie sich entschied, oder ob er dem Gefühlschaos geschuldet war, das Jennas Enthüllung in ihr verursacht hatte.
Kirsty eilte aus dem Zimmer. Sie würde mit dem Dienstbotenaufzug nach oben fahren, denn sie wollte jetzt niemandem begegnen. In der Stille ihres Zimmers würde sie dann die Entscheidung fällen.
Schweigend fuhren Liam und Jenna im Aufzug nach unten, Jennas Koffer zwischen sich. Liam würde sie höchstpersönlich in ein Taxi setzen und dafür sorgen, dass sie nicht noch mehr Unheil anrichtete. Er war spät dran, eigentlich hätte er längst im Festsaal sein müssen. Dan war bestimmt auf hundertachtzig.
Pling. Der Aufzug hielt im dritten Stock. Mist, dachte Liam, als die Türen sich langsam öffneten, das auch noch! Draußen stand Kirsty.
Einen Moment lang starrten sie einander an. Als die Türen wieder zugingen, drückte Liam den Knopf, der sie wieder aufgehen ließ. Instinktiv machte Kirsty einen Schritt nach hinten, als Jenna auf sie zutrat.
»Ich muss mit dir reden.«
»Jenna!« Liam packte sie an der Schulter. »Findest du nicht, du hast schon genug gesagt?«
»Nein. Da ist noch etwas.«
»Bitte …« Kirsty hob abwehrend die Hände. »Ich will nichts mehr hören.«
Sie wandte sich zum Gehen, aber Jenna hielt sie auf.
»Kirsty, hör zu! Alles, was ich dir erzählt habe … war gelogen.«
Kirsty blieb stehen und drehte sich um. Liam hielt den Aufzugsknopf gedrückt.
»Ich habe gar nicht mit Dan geschlafen.« Jenna wirkte trotzig, aber ihre Stimme zitterte, und ihre Augen glänzten. »Ich gebe zu, ich war bei ihm im Zelt. Ich hätte mit ihm geschlafen – ich kann nicht so tun, als hätte ich es nicht gewollt. Aber er war zu nichts mehr zu gebrauchen. Er war so betrunken, dass er sofort eingeschlafen ist. Als er am nächsten Morgen aufgewacht ist, hab ich ihn in dem Glauben gelassen, wir
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