Für immer, Dein Dad
Stillen verfluchte ich Bingo-Mann, der fast täglich einen Streit mit ihr vom Zaun brach. Erst am Vorabend hatte ich mitbekommen, dass Mum meinte, sie brauche etwas, während ihr Bingo-Mann hitzig wegen irgendwelcher «Risiken» widersprochen hatte. Mit einem innigen Kuss auf die Wange flüsterte ich ihr «Auf Wiedersehen» ins Ohr, umarmte Carla und ihre Mutter noch einmal und reihte mich dann in die Schlange ein, die mich von der Abflugshalle ins Unbekannte führen würde.
Dann folgten die Suche nach dem richtigen Gate, die Kontrolle von Ausweis und Bordkarte. Abgesehen von einem Schulausflug nach Frankreich in Prä-Eurostar-Zeiten und einem Flug nach Barcelona mit Carlas Familie war ich noch nie weit weg gewesen. Und schon gar nicht allein. Als ich meinen Platz gefunden und mich angeschnallt hatte, schien alles, was mit England und Corey zu tun hatte, unter den Zuckerwattewolken am Himmel zu verschwinden. Dennoch waren die Aufregung und Nervosität der letzten Tage zu viel gewesen, und ich schlief schon bald nach der ersten Mahlzeit ein. Ich träumte von Dad und davon, wie stolz er in diesem Moment auf mich war.
Die Jugendlichen, die mit Jump America angekommen waren, wurden von einem Bus am Flughafen abgeholt. Während der Fahrt zu unserem Hotel in Manhattan staunte ich darüber, wie anders und wie außergewöhnlich alles war. Riesige Straßen, riesige Autos und Ampeln, an denen das Wort «Walk» die Fußgänger aufforderte, die Straße zu überqueren. An jeder Ecke gab es Geschäfte. Tausende von Restaurants. Ein Mann führte seinen Hund aus, eine ältere Frau zog ihr wackliges Einkaufswägelchen hinter sich her, und alle schienen es unheimlich eilig zu haben.
Der Busfahrer sagte: «Willkommen in Big Apple», und wir alle brachen in lauten Beifall aus. Wir platzten fast vor Begeisterung über unsere aufregende Reise.
Ich war noch nie so glücklich gewesen.
Ich wusste schon, dass ich über den Sommer ausreichend Geld verdienen würde, um viele von New Yorks wundervollen Attraktionen wahrzunehmen. Aber es genügte mir auch schon, etwas zu erleben, was man sonst nur im Fernsehen sah. Jedenfalls fürs Erste.
Jump America hatte mich zusammen mit ein paar anderen in einem schicken Manhattaner Hotel untergebracht, wo uns am nächsten Morgen ein enormes Frühstück samt Pancakes und Waffeln serviert wurde. Naiv wie ich war, dachte ich, die kommenden drei Monate würden nach demselben Schema verlaufen – reines Luxusleben im Herzen einer pulsierenden Metropole. Doch am nächsten Tag wurden wir wieder abgeholt und in einem stickigen Bus über den Hudson River und nach New Jersey gebracht. Unser Ziel lag Stunden von New York und seinen unglaublichen Wolkenkratzern entfernt. Der Geruch von Kuhmist stieg mir in die Nase, während wir durch weites, grünes Land fuhren. Als ich endlich aus dem Bus stieg, kam eine winzige Frau mitder allerwinzigsten Brille, die ich je gesehen hatte, auf mich zu. Beim Gehen blitzten ihre knubbeligen Knie unter den Khaki-Shorts hervor.
«Hallo! Willkommen auf unserer Farm!», piepste sie, als würde sie mir einen Lottogewinn verkünden.
«Danke», sagte ich. Der Busfahrer stellte mein Gepäck neben mir ab. Ich kämpfte mich die endlose «Zufahrt» zum Haus hoch, während die Frau mit einer Stimme wie Michael Jackson auf Helium unentwegt plapperte. Die Farm (ein Holzkasten mitten im Nirgendwo) entpuppte sich als eine Art Ferienlager, in das jeden Sommer etwa hundert Kinder geschickt wurden. Sommercamps waren sehr verbreitet in Amerika. Als sie mir das Zimmer zeigte, das für die nächsten drei Monate mein Zuhause als Betreuerin und Organisationshilfe werden sollte, sank meine Laune abrupt.
Das Bett war hart wie ein Brett.
«Gefällt es dir?», fragte sie mit ihrer Piepsstimme.
«Ja. Danke.»
«Du bist als Letzte angekommen», erklärte sie, während ich meinen Koffer aufklappte. «Du kannst jetzt auspacken, aber sei in einer Viertelstunde zum Essen unten.»
Ich sah mich genauer um. Die Einrichtung war nüchtern, und es hing ein moschusartiger Geruch in der Luft, der mich garantiert bald stören würde. Ich legte mich auf das Bett, das jeden Preis für das unbequemste Bett der Welt gewonnen hätte, starrte an die Decke und bemerkte sofort einige Sprünge im Verputz. Dann zog ich den
Leitfaden
aus meinem Handgepäck, drückte ihn an meine Brust und war mit einem Mal sicher, dass alles gutgehen würde.
Leider irrte ich mich.
Der erste Morgen war grauenvoll. Wir Betreuer hatten uns zu
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