Für immer, Dein Dad
anhören und ihnen die wundervolle große Schwester sein, als die ich mir Dich vorstelle. Ich weiß, dass Du das kannst. Und wenn Ihr Euch so nah seid wie Philomena und ich, dann könnt Ihr Euch gratulieren. Aber mach Dir keine Sorgen, wenn es nicht so kommt. Ina und ich hatten nie ein besonders enges Verhältnis.Nicht mal jetzt, nach der Diagnose, und bei unseren Telefonaten herrscht immer eine ziemliche Anspannung … aber das ist eine andere Geschichte. Einen Bruder oder eine Schwester zu haben ist toll, denn ein Einzelkind zu sein kann auch bedeuten, einsam zu sein, und ich will nicht, dass Du einsam bist.
Ich war aber gerne «einsam».
Das war ich ja ohnehin die meiste Zeit meines Lebens gewesen (abgesehen von der «Gesellschaft» von Dads
Leitfaden
). Ich wollte nicht, dass sich durch dieses Kind irgendetwas daran änderte. Seine Geburt sollte auf mein Leben ungefähr so viel Einfluss haben wie eine Feder, die in den Ozean fällt. Ganz gleich, ob Bingo-Mann mit viel Gehämmere und Geklopfe ein Gitterbettchen im Gästezimmer aufbaute oder Regale über der alten Kommode anbrachte – das Kind meiner Mutter würde mein Leben kein bisschen verändern.
Dachte ich jedenfalls, bis Abbi eines Morgens da war und ich das schreiende Bündel in einer rosa-weiß gestreiften Decke ungebeten in die Arme gedrückt bekam.
Wir waren im Krankenhaus.
«Ist sie nicht wunderschön?», schwärmte Bingo-Mann, während ich auf meine sogenannte «Schwester» hinuntersah, die mit ihrem winzigen Köpfchen, das sie an meinen Bauch schmiegte, ein bisschen aussah wie ein kleiner Alien. Ich begann unter der Wolldecke zu schwitzen.
Dann fing mein Arm an wehzutun. «Ja … sie ist, mmh … süß.»
Stolz und erschöpft erzählte Mum allen, wie schmerzhaft die Geburt gewesen war, die sich über vierundzwanzig Stunden hingezogen hatte (und die offenkundig viel interessanterwar als meine Geburt, die dreißig Stunden gedauert hatte). Ich wollte nur noch aus dem Krankenhaus raus. Aber ich saß in der Falle. Ich musste dieses rosa-weiße Bündel festhalten und den grässlichen Krankenhausmief einatmen, während Gott und die Welt (mit Ausnahme Coreys natürlich) vorbeikam, um einen Blick auf das Kind zu werfen, das bei näherer Betrachtung mit seinem Runzelgesicht und dem langgezogenen Kopf eher an einen nachtaktiven Wurm erinnerte. Was soll ich sagen? Es war eben ein Kind wie alle anderen, aber aus irgendeinem Grund schienen Mum, Bingo-Mann und sämtliche Besucher da völlig anderer Meinung zu sein.
«Sie sieht genauso aus wie du!», schwärmte Carla, während der Krankenpfleger zugleich das Kissen meiner Mutter aufschüttelte und Carla wie hypnotisiert anstarrte. Sogar mit dem Baby auf den Armen sah sie noch schön aus. Ihr Haar war schulterlang und umrahmte ihr Gesicht mit dem geschwungenen roten Mund und den Wimpern, die so dicht waren, dass sie fast unecht aussahen. Außerdem wirkte sie dank der wahnsinnig hohen Absätze, die sie inzwischen gerne trug, noch größer. Sie hatte zwar schon immer gut ausgesehen, aber mittlerweile war sie so schön wie die Frauen aus den Promizeitschriften.
Supermodel heiratet Rockstar.
Blöde Kuh.
«Findest du wirklich?», fragte Mum.
«Nein, ich finde, sie kommt nach ihrem Dad. Seht euch nur mal die Augen an! Genau wie bei Corey und seinem …», sagte Carlas Mutter, und plötzlich wurde es still im Zimmer. Man hörte nur noch den Krankenpfleger, der sich an Mums Bett zu schaffen machte und der seinen Blick nun nicht mehr von Carlas Mutter, genauer gesagt ihrem Dekolleté, losreißen konnte. Mit zwei so attraktiven Frauen imZimmer einer Patientin hätte er glatt Erschwerniszulage beantragen sollen.
«Es ist nichts dabei, wenn du Dad erwähnst, Mum!», sagte Carla. Sie hatte die Trennung ihrer Eltern sehr schlecht verkraftet und gab ihrer Mutter heimlich die Schuld daran. Das überraschte mich, denn Carlas Mutter hatte nur für klare Verhältnisse gesorgt: Die Ehe hatte ihren Zweck erfüllt, die Kinder waren erwachsen, und jetzt war es wieder an der Zeit, das Leben zu genießen.
Während sich alle anderen höchst angeregt über Namen und Säuglingspflege unterhielten, plante ich schon meinen Rückzug.
«Mum, soll ich dir nächstes Mal etwas von zu Hause mitbringen?», fragte ich und knöpfte meine Jacke zu, während das Kind immer noch in Carlas Armen lag. «Mum?»
Obwohl sie vollkommen erschöpft und mit aufgesprungenen Lippen in ihrem Bett lag, hatte ich meine Mutter noch nie so
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