Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
zögert einen Augenblick zu lange, »das glaube ich nicht.«
Ich bin ein bisschen enttäuscht über seine endgültige Antwort. Ruhelose Seelen wären eine weit angenehmere Erklärung als der Gedanke, dass ich vielleicht auf dem besten Weg bin, verrückt zu werden. Dabei fühle ich mich gar nicht verrückt. Abgesehen von plötzlichen Lateinkenntnissen und Visionen von Enthauptungen geht es mir eigentlich gut.
»Da fällt mir ein, dass wir uns noch gar nicht richtig vorgestellt haben«, sagt er und beugt sich vor. »Ich bin Griffon.«
»Ich weiß. Owen sagte das.«
Er sieht mich an. »Na und du?«
»Oh ja, ich! Natürlich.« Wie dumm von mir. »Cole. Eigentlich Nicole, aber so nennt mich nur meine Mom, alle anderen sagen Cole.«
»Cole, ein schöner Name«, sagt er. »Du bist nicht von hier, oder?«
»Nein. Mein Dad ist auf Geschäftsreise und hat uns mitgenommen. Wir leben in San Francisco.«
Griffon nickt. Wahrscheinlich begegnet er hier Leuten aus aller Welt.
»Warst du schon mal dort?«
»San Francisco? Ein paarmal. Wo genau wohnt ihr denn?«
»Upper Haight. Gleich am Panhandle vor dem Golden Gate Park.«
»Gibt es dort noch das Ben & Jerry’s?«
»Das ist gleich bei uns um die Ecke«, antworte ich lächelnd.
Griffon sieht mir kurz in die Augen, dann lässt er den Blick über die anderen Besucher des Cafés wandern. »Gefällt’s dir hier?«
Ich suche nach irgendetwas Interessantem, das ich erzählen könnte. Bald wird er denken, ich besäße das Kommunikationsvermögen einer Austauschstudentin im ersten Semester. »Wir hatten eine tolle Zeit.«
»Was habt ihr denn so gemacht?«
Schon öffne ich den Mund, um ihm von der Meisterklasse des London Symphony Orchestra zu erzählen, an der ich teilgenommen habe, davon, dass ich Anfang der Woche bei einem Konzert hinter der Bühne sein durfte, dass ich einige der Cellisten, die ich seit vielen Jahren bewundere, getroffen und sogar mit ihnen gemeinsam gespielt habe. Aber Griffon weiß nicht, dass ich ein Cello-Wunderkind bin. Er kennt mich nur als das etwas unbeholfene Mädchen, das von Geistern redet und in Fremde hineinstolpert, und plötzlich möchte ich, dass das auch so bleibt. »Ach, das Übliche«, antworte ich schließlich, »Buckingham Palace, die Tate Gallery, Museen.«
»Was ist mit dem London Eye?«, fragt er und deutet mit dem Kopf in Richtung des gewaltigen Riesenrads auf der anderen Seite des Flusses.
Nur wenn mir jemand eine Pistole in den Rücken hielte, würde ich mich in eine kleine Glaskiste in über hundert Metern Höhe stecken lassen. Vielleicht nicht einmal dann. »Nö, da sind wir noch nicht gewesen.«
»Normalerweise stehe ich nicht auf den Touristenkram, aber von dort hat man wirklich eine tolle Aussicht.«
»Vielleicht morgen«, antworte ich, aber das ist natürlich glatt gelogen. »Wir haben gar nicht genug Zeit, alles zu machen. Aber bisher war es wirklich toll. Diese Stadt hat mich schon immer fasziniert. England überhaupt.«
»Sag jetzt nicht, du bist mitten in der Nacht aufgestanden, um die Königshochzeit im Fernsehen zu gucken.«
»Nein, bin ich nicht.« Diesmal nicht gelogen – Kat hat sie aufgezeichnet. »Ich mag einfach alles, was mit Geschichte zu tun hat, und habe mich darauf gefreut, all die Dinge zu sehen, über die ich schon viel gelesen habe.« Eigentlich würde ich ihm jetzt gerne von der Vision erzählen, von der jungen Frau auf dem Schafott. Irgendetwas in der Art, wie er mich ansieht, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Als könnte ich ihm alles erzählen und er würde mir glauben. »Irgendwie fühlt sich London für mich wie ein Zuhause an. Alles scheint mir so vertraut und bekannt, obwohl es das in Wirklichkeit natürlich nicht ist.«
Griffon schaut mich aufmerksam an. »Wie ein Déjà-vu?«, fragt er.
»Ja, genau. Es ist wirklich seltsam. Manchmal gehe ich an irgendeinem Haus vorbei und spüre plötzlich totales Heimweh. Oder ich weiß ganz genau, wie die nächste Straße aussehen wird, obwohl ich dort niemals zuvor war.«
Er nickt, hört mir aufmerksam zu. »Es ist seltsam, das Gefühl zu haben, schon mal an einem Ort gewesen zu sein oder etwas schon mal gesehen zu haben.« Griffon sieht nachdenklich aus. »Aber es ist irgendwie noch mehr als das.«
»Ja, du hast recht«, stimme ich ihm zu. »Es ist nicht nur, als ich hätte ich es zuvor gesehen, sondern …« Plötzlich fällt mir auf, dass ich gerade dabei bin, einem völlig Fremden mein Innerstes preiszugeben. Einem völlig Fremden, der
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