Fuer immer du
vorstellen zu müssen.
Das Klassenzimmer sah nicht viel anders aus, als die Räume in meiner alten Schule; es gab eine Tafel, die Wände waren mit Formeln und Tabellen beklebt und wir saßen hinter langen Tischreihen. Das einzig ungewöhnliche war das riesige Holzkreuz, das an der Wand hinter uns hing und fast drohend über uns aufragte und das Morgengebet, das mich jetzt wohl jeden Tag vor der ersten Stunde erwarten würde. So etwas in der Art hatte ich schon geahnt, aber nichts konnte schlimmer werden als diese Schuluniformen. Ich hatte das Gefühl, mitten in eine Szene von Braveheart geschlittert zu sein. Überall Karos!
Ganz entgegen meiner Vorstellung war die Lehrerin keine Nonne, zumindest trug sie normale Kleidung. Jenny und Mel saßen zu beiden Seiten von mir, sodass ich mir die Bank nicht mit jemand teilen musste, den ich nicht kannte. Da eine Unterrichtsstunde an der Marienschule immer eine Doppelstunde war, hatte ich neunzig Minuten, mich gedanklich auf mein Gespräch mit der Direktorin vorzubereiten. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig, als immer wieder vom Unterrichtsstoff abzuschweifen, denn die monotone Stimme der Lehrerin verhinderte, dass irgendjemand im Raum sich auf sie konzentrierte. Mel füllte ein Kreuzworträtsel aus, Jenny hinterließ auf der Tischplatte kleine Herzchen und vor uns wurden Briefchen ausgetauscht.
Das Büro der Direktorin war unerwartet schlicht für eine Privatschule. Als ich gerade die Türklinke herunterdrücken wollte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Zwei junge Männer schoben sich an mir vorbei und musterten mich anzüglich. Da das hier eine Mädchenschule war, vermutete ich, dass sie vielleicht Handwerker waren. Ich hatte gesehen, dass einige Fenster im rechten Gebäude ausgewechselt wurden. Frau Dietrich saß hinter einem einfachen Schreibtisch und begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. Ich begrüßte sie mit einem Kopfnicken und fand, dass sie ganz harmlos wirkte, kein bisschen tyrannisch. Vielleicht war die Schuluniform das einzige Verbrechen, das sie begangen hatte.
»Guten Tag, Skyler«, setzte sie an. Frau Dietrich hatte rötlich gefärbte Haare, die bis auf ihre Schul tern fielen. Sie sah hübsch aus: schlank, trug ein schwarzes Kostüm, das eher wie ein zweiteiliges, eng anliegendes Kleid aussah. Sie war aufgestanden und vor dem Stuhl, auf dem ich saß, stehengeblieben. Sie schaute auf mich herunter und lächelte. Ich versuchte zu schätzen, wie alt sie war, was wirklich schwer war. Das lange, wellige Haar, die schlanke Figur, ihr angenehmes Lächeln, alles an ihr wirkte jung. Doch die tiefen Falten um ihre Augen und den Mund herum sagten etwas anderes.
»Skyler ist ein ungewöhnlicher Name. Woher kommt er?« Sie musterte mich unter zusammengekniffenen Augen und ich kämpfte gegen den Drang an, auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen.
»Mein Vater ist Amerikaner. Er war hier in Deutschland stationiert.«
»Aha. Und ist Skyler nicht eigentlich ein Jungenname?«
»Ja, vielleicht.« Ich hätte ihr jetzt die ganze lange Geschichte erzählen können, dass meine Eltern schon früh während der Schwangerschaft gesagt bekommen hatten, dass ich ein Junge werden würde, dass sie sich auf diese Aussage des Frauenarztes verlassen hatten, dass ich in ein blaues Kinderzimmer hineingeboren wurde und, dass sie sich letztendlich in den Monaten der Schwangerschaft so an diesen Namen gewöhnt hatten, dass sie beschlossen hatten, dass er auch für ein Mädchen passen würde. Aber stattdessen sagte ich nur: »Ich mag ihn. Wenigstens kein Sammelbegriff wie Janine oder Michelle.«
»Verstehe«, sagte sie knapp und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. Die Musterung war wohl beendet.
»Machen wir es kurz.«
Ich schluckte. Ihre Stimme klirrte plötzlich eisig und ihre Augen waren stechend auf mich gerichtet. Sie zögerte noch einen Moment, dann sah ich, wie sich ihre Brust unter einem tiefen Atemzug hob und wieder senkte.
»Diese Schule ist eine besondere Schule. Alle Mädchen, die hier herkommen, wurden von ihren Eltern hier angemeldet, damit sie eine gute Ausbildung und eine besondere Erziehung bekommen.« Die Direktorin beug te sich über ihren Schreibtisch näher zu mir. »Deiner Akte konnte ich entnehmen, dass du in der Vergangenheit die Regeln gebrochen hast.« Sie schob mir die Akte über den Tisch zu, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Ich schielte vorsichtig auf die offene Seite und wusste ohne zu lesen, was da geschrieben stand, um was
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