Fuer immer du
nicht. Da waren zu viele Männer, die genauso waren wie er. Ständig besoffen, ständig prügelnd und streitend. Das war kein Weihnachten.
Nein, die Stille, der Frieden hier draußen im Park, kamen seiner Vorstellung von Besinnlichkeit noch am Nächsten. Der Alte hustete und rieb sich über die Arme, um das Zittern zu vertreiben. Seine Knochen schmerzten von der Kälte. Seine Nase fühlte er nicht mehr, aber den stechenden Schmerz in seinen Zehen.
Eine Gestalt kam über den See gelaufen. Durch das Schneegestöber hindurch konnte er sie kaum sehen. Sie war nichts als ein schwarzes Schemen. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, doch sie lief unbeirrt weiter.
Der Alte beobachtete die Gestalt, wie sie langsam über das Eis lief und kein einziges Mal strauchelte, rutschte oder auch nur unsicher aufzutreten schien. Er fragte sich, wer außer Hundebesitzern bei diesem Wetter und in der Heiligen Nacht sonst noch hier rauskommen würde. Langsam trat die Gestalt aus dem Gestöber heraus und blieb am Ufer unter einer Laterne stehen. Das Licht der Laterne umgab die Person wie ein Heiligenschein. Sie blickte zu dem Alten hinüber und kam direkt auf ihn zu. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde der Lichtkranz die Gestalt begleiten, doch dann verlosch er.
Der alte Mann starrte lächelnd auf die Frau, die sich ihm näherte. Sie hatte noch immer dieses sanfte, freundliche Gesicht. Sie sah viel rosiger, gesünder aus, als damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war so schön, wie
in ihren glücklichsten Tagen. Damals, als die Welt für sie alle noch in Ordnung war.
Warme Nässe lief dem Alten über sein stoppeliges Gesicht. Jetzt war er sicher, dass es Tränen waren. Die Frau setzte sich neben ihn auf die Parkbank, legte eine zarte Hand auf das Knie des Alten und lächelte. „Fröhliche Weihnachten, mein lieber Ehemann.“ Dann rückte sie näher an ihn heran, legte ihren Kopf auf seine Schulter und mit einmal wurde dem Alten ganz warm. Der Park erstrahlte im hellsten und wärmsten Licht, das er jemals gesehen hatte. Seit Jahren war er nicht so glücklich gewesen. Es war Heilig Abend und er würde dieses Weihnachten nicht allein verbringen, sondern mit seiner Frau. So wie früher. Am Baum leuchten die Lichter. Es riecht nach Braten und Lebkuchen. Sein Sohn spielt die ersten Noten von Stille Nacht und die helle, klare Stimme seiner Frau erhebt sich und hüllt ihn ein.
***
Schneeflocken rieseln vom Himmel. Das Licht der Laternen glitzert auf der verschneiten Oberfläche des Parks wie Diamanten. Es ist kalt heute Abend. Ein paar Kinder gleiten mit ihren Schlittschuhen über den vereisten See. Jemand führt seinen Dackel in einem roten Mantel für Hunde aus. Auf einer Parkbank sitzt ein alter Mann, der bei dem Anblick des Hundes lächelt. Neben ihm liegt eine Zeitung. Auf der
Titelseite steht in großen Buchstaben: Obdachloser erfriert Heilig Abend im Stadtpark
Der alte Mann weiß, dass im Artikel nicht erwähnt wird, wer der Obdachlose gewesen war. Für die Leute bei der Zeitung
war er ein Namenloser gewesen. Für den Mann auf der Parkbank, sein einziger Halt im Leben. Heute Abend würde er nicht in das Obdachlosenheim am Ring zurückkehren. Diese Nacht würde er hier verbringen. An dem Ort, an dem sein Freund gestorben war.
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