Fuer immer Ella und Micha
ist ja auch nicht echt. Das ist gestellt, damit sich die Leute, die das Bild anschauen, prima fühlen und den Rahmen kaufen.«
»Nein, Ella, das ist echt. Glück existiert«, antwortet Anna traurig. »Sicher ist es nicht immerzu so, doch Familien sollten ihre glücklichen Momente haben, und Kinder sollten in die Arme genommen werden und sich geliebt fühlen.«
»Ich habe mich geliebt gefühlt – und fühle mich geliebt.« Ich massiere meine Schläfen und habe das Gefühl, dass mir ein Zementklotz auf die Brust geworfen wurde. »Ich wurde auch in die Arme genommen … einige Male.«
»Einige Male in den letzten zwanzig Jahren?«, bohrt sie nach. »Das scheint mir nicht sehr häufig.«
»Ich wurde oft umarmt«, sage ich beleidigt. »Micha umarmt mich dauernd.«
»Wieder einmal landen wir bei Micha. Klammern wir ihn für eine Minute aus und konzentrieren uns auf deine Familie.« Sie macht sich einige Notizen in ihrem Buch. »Haben deine Eltern dich jemals in die Arme genommen? Mit dir gelacht? Familienausflüge mit dir gemacht?«
»Wir waren mal im Zoo, als ich sechs war. Aber meine Mom war manisch-depressiv und konnte nicht viel mit uns unternehmen. Und mein Dad … na, der liebte seinen Jack Daniels.« Ich muss eine Pause machen, weil mir Wut die Zunge verätzt. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will auf gar nichts hinaus«, antwortet sie freundlich und steckt die Kappe auf ihren Stift. »Ich versuche lediglich, dich dein Leben betrachten zu lassen.«
»Damit ich erkenne, dass es verrückt ist – dass ich verrückt bin? Das weiß ich nämlich schon, ohne dass ich mein beschissenes Leben rekapituliere.« Meine Hände zittern und schwitzen angesichts der bitteren Erinnerungen, aus denen mein Leben besteht. Ich fange an zu hyperventilieren und sehe Punkte.
»Atme tief ein«, befiehlt Anna und schwenkt ihre Hand in dieser Bewegung vor der Brust, die für innere Reinigung steht. Ich befolge ihre Anweisung. »Du bist nicht verrückt, Ella. Du hast schlicht ein hartes Leben gehabt.«
Mein Gehirn dröhnt in meinem Schädel. »Und was hat das mit der Angst oder den Depressionen oder sonst was zu tun, was Sie denken, dass ich habe?«
»Ich glaube, dass du manchmal denkst, du hättest kein gutes Leben verdient – dass du kein guter Mensch bist. Dass du nicht verdienst, geliebt zu werden.« Sie klappt eine Akte zu, legt sie auf einen kleinen Stapel und verschränkt die Hände auf ihrem Schreibtisch. »Und ich glaube, deshalb stößt du andere von dir, hast Angst und bist deprimiert.«
Ich werfe den Kopf in den Nacken. »Ich bin so, weil meine Mom gestorben ist und es meine Schuld war. Ich bin so, weil ich weiß, dass mein Verstand im Eimer ist und ich keinen anderen mit mir runterziehen will.«
»All das stimmt nicht«, sagt sie, und ich hebe den Kopf wieder, um sie anzusehen. »Und unser Ziel ist, dich dahin zu bringen, dass du es glaubst.«
Wir reden noch ein bisschen über leichteren Kram: wie meine Kurse laufen und was ich Weihnachten vorhabe. Als meine Zeit um ist, gehe ich zurück in die Wohnung.
Lila ist noch nicht von ihrem Kurs zurück, sodass es still in der Wohnung ist. Ich nehme mir eine Dr. Pepper aus dem Kühlschrank, hole mein Handy aus der Tasche und starre den Bildschirmschoner an, der ein Bild von Micha, Lila, Ethan und mir bei der Hochzeit zeigt.
»Da sehe ich auch glücklich aus«, sage ich entschlossen und wähle Michas Nummer.
»Du hast zurückgerufen!«, meldet er sich nach dem zweiten Klingeln. »Ethan schuldet mir einen Zwanziger.«
Ich kaue auf meinem Daumennagel. »Hat er gewettet, dass ich nicht zurückrufe?«
»Er hat gewettet, dass du mich komplett ignorierst.« Er äfft ein boshaftes Lachen nach. »Dass die Stepford-Wife-Ella zurück ist.«
»Nein, hier ist keine Stepford-Wife-Ella.« Ich tippe oben auf meine Limodose und ziehe den Verschluss auf. »Nur eine verwirrte.«
Er hört auf zu lachen. »Möchtest du darüber reden?«
»Nein, lieber nicht«, antworte ich mit einem erschöpften Seufzen und trinke einen Schluck.
Micha schweigt eine Weile. »Ella, Freunde können über das sprechen, was sie gerade durchmachen.«
»Ja, weiß ich.« Ich stelle die Dose ab und hocke mich an den Tresen. »Aber ich habe gerade eine Stunde lang mit meiner Therapeutin geredet, und ich hätte gerne eine Pause von meinem Kopf, so absurd es auch klingen mag.«
»Es klingt überhaupt nicht absurd.« Er zögert, als müsste er überlegen, ob er sich mehr zu sagen traut. »Wie wäre es, wenn
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