Fuer immer Ella und Micha
und meine Therapeutin in den Gang blickt.
»Ella, ich bin so weit.« Sie macht die Tür weiter auf und bedeutet mir hereinzukommen.
»Ich rufe dich nachher zurück«, erkläre ich Micha. »Ich bin auf dem Weg ins Sprechzimmer der Therapeutin.« Ich lege auf, ehe Micha noch etwas sagen kann, nehme meine Tasche und gehe zu meinem üblichen Platz vor dem Schreibtisch.
Anna sitzt auf ihrem Stuhl, wählt einen Stift aus dem Köcher aus und nimmt ihr Notizbuch aus der Schublade. Heute ist ihr Hosenanzug in einem farblosen Braunton, das Haar trägt sie aufgesteckt. Sie setzt ihre Brille auf und überfliegt ihre Notizen der letzten Sitzung.
»Das war Micha am Telefon«, komme ich ihrer Frage zuvor, von der ich weiß, dass Anna sie stellen will. »Und ich habe eben erfahren, dass er hierhergezogen ist.«
»Ah, verstehe.« Sie lässt Stift und Buch auf den Schreibtisch fallen und zieht ihren Stuhl weiter nach vorn. »Du hörst dich nicht begeistert an.«
»Ich bin nicht sicher, was ich bin«, antworte ich und überlege. »Einerseits ist es schön, ihn in der Nähe zu haben, falls ich ihn brauche. Andererseits versuche ich, ihn nicht zu brauchen, und deshalb könnte es schlecht sein, dass er so nahe ist. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»Es ergibt sogar eine Menge Sinn.« Sie blättert in ihrem Notizbuch. »Wie lange kennst du Micha noch gleich?«
»Schon ewig. Ich meine, ich kann mich erinnern, wie ich mit vier Jahren fasziniert war, weil er mit seinem Dad in der Garage an Autos schraubte. Natürlich traute ich mich nicht rüberzugehen und mit ihm zu reden. Er hat mich als Erster angesprochen.« Ich muss kichern. »Er musste mich mit einer Saftpackung und einem Spielzeugauto bestechen, damit ich das erste Mal über den Zaun kletterte.«
»Warum hattest du Angst, ihn anzusprechen?«, fragt Anna.
»Weiß ich nicht. Vielleicht weil ich immer das Gefühl hatte, in einer anderen Welt zu leben, die keiner versteht, nicht mal er.« Achselzuckend zupfe ich an meinen Fingernägeln. »Das Gefühl habe ich bis heute manchmal, als würde ich Sachen anders wahrnehmen als die meisten anderen Leute.«
Anna tippt mit ihren manikürten Fingern auf den Schreibtisch. »Ich glaube, du sorgst dich zu viel darum, wie du denkst.«
»Ja, klar. Das ist mir schon länger bewusst. Was ich allerdings nach wie vor nicht weiß, ist, wie ich aufhören soll, mir deshalb Sorgen zu machen.«
»Weil du, wie ich glaube, die Ursache nicht begreifst«, sagt Anna. »Nach dem, was du mir erzählt hast, Ella, war deine Kindheit voll mit Sorge und Angst.«
»Ich habe mich nicht die ganze Zeit gesorgt«, korrigiere ich sie schnell. »Es gab auch lockere … Momente. Und ich habe mein Leben so gelebt, wie ich es musste, um zu überleben. Hätte ich mich nicht gekümmert, hätte keiner Rechnungen bezahlt, keiner aufgepasst, dass alle essen oder saubere Sachen haben.«
»Das meine ich eigentlich nicht, auch wenn es dazugehört.« Sie nimmt ein Foto aus der Akte und legt es flach vor mir auf den Tisch. »Was denkst du, wenn du dieses Bild ansiehst?«
Es ist ein Foto von einem Mann, einer Frau und einem kleinen Mädchen. Alle drei haben die gleichen blauen Augen und platinblondes Haar. »Ähm … dass Sie gerne die Musterbilder aus Fotorahmen nehmen und sie im Büro aufbewahren?«
»Ella, es hilft dir nicht, deine Gefühle hinter Witzen zu verstecken«, sagt sie streng. »Erzähl mir einfach, was du siehst.«
»Ich sehe eine Familie, schätze ich.«
»Sehen die Leute glücklich aus?«
Ich betrachte ihre lächelnden Gesichter. »Sie scheinen mir normal glücklich.«
Sie schiebt das Bild näher zu mir und tippt mit dem Finger darauf. »Beschreibe mir, was du siehst.«
Das ist eine komische Bitte, aber ich tue es. »Na ja, der Mann hat seinen Arm um die Schultern der Frau gelegt und sieht aus, als würde er sie lieben, obwohl sein Lächeln ein bisschen zu gekünstelt ist, wenn Sie mich fragen. Die Frau hat das kleine Mädchen auf dem Arm, und die beiden sehen auch glücklich aus. Ich kapiere bloß nicht, wieso die so verdammt glücklich sind. Sie lassen sich doch einfach nur fotografieren.«
Versehentlich knickt sie eine Ecke ein, als sie das Foto zurück in ihren Ordner steckt. »Haben dich deine Mutter oder dein Vater jemals so im Arm gehalten? Erinnerst du dich, als Kind glücklich gewesen zu sein?«
Mir kommt es vor wie eine Frage nach einer mathematischen Formel, und mein Verstand kämpft mit so viel abstrakter Kompliziertheit. »Nein, aber das da
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