Für immer, Emily (German Edition)
Fahrrädern zu tun hatte, erinnerte ihn an den schlimmsten Tag seines Lebens. Und ihr Sturz bei diesem Ausflug. Er war voller Angst um sie gewesen, dabei so wütend und durcheinander. Ach Gott, Niclas, wie schrecklich musste er all die Jahre gelitten haben.
Sie wusste nicht, wie lange sie so da saßen, bis Niclas sich irgendwann langsam von ihr löste und sich zurücklehnte. Er schloss die Augen, und sie betrachtete ihn voller Sorge. Er sah völlig fertig aus. Sie streckte die Hand aus und strich ihm zärtlich über die Wange. „Möchtest du etwas trinken? Einen Tee oder ein Wasser? Oder einen Schnaps?“
Niclas verzog das Gesicht. „Ein Schnaps würde nicht reichen, da müsstest du mir schon ein ganzes Fass hinstellen.“ Er öffnete die Augen und ein winziges Lächeln glitt über sein Gesicht, über das Emily jedoch in diesem Moment unendlich glücklich war. Er drückte ihre Hand. „Ein Wasser wäre nicht schlecht.“
„Okay, ich bin gleich zurück.“ Sie lief in die Küche und holte die Flasche aus dem Kühlschrank, froh, etwas tun zu können, denn Niclas‘ Verzweiflung machte sie fix und fertig. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Ben seinen Kopf auf Niclas‘ Schoß gelegt, es sah aus, als ob er ihn trösten wolle. Sie lächelte und setzte sich neben die beiden. „Hier. Trink das, das wird dir gut tun. Du siehst richtig elend aus. Ach, Nic, ich möchte dir so gerne helfen.“ Sie gab Niclas das Glas.
Er nahm einen tiefen Schluck. „Danke. Du hilfst mir doch. Weißt du, ich hab noch niemals mit jemandem darüber geredet, nur mit dir. Selbst mit meinem Vater habe ich nie darüber gesprochen. Mit niemandem.“ Er stellte das Glas auf dem Tisch ab.
Emily sah ihn erschüttert an. „Du hast niemals mit jemandem darüber geredet? Oh, Nic, wie hast du das nur all die Jahre ausgehalten? Warum hast du denn nicht mit deinem Vater gesprochen, er hätte dir gesagt, dass es dumm ist, was du dir vorwirfst.“ Sie legte ihm den Arm um die Schultern, und er lehnte seinen Kopf an ihren. Es war dämmrig im Zimmer, nur eine kleine Stehlampe brannte, und draußen hatte offenbar auch der Wind aufgefrischt, denn es rüttelte gewaltig an den Rollläden.
Niclas‘ Stimme war voller Schuldbewusstsein und Schmerz, als er antwortete: „Warum ich nicht mit ihm geredet habe? Ich hab mich nicht getraut, Emily. Er war so verzweifelt. Nach der Beerdigung hat er tagelang kein Wort gesprochen und danach war er nie wieder der Alte. Er hat sie geliebt, und ich hatte sie ihm genommen. Ich hatte Angst, er hasst mich. Er war doch alles, was ich noch hatte. Und je länger ich schwieg, desto unmöglicher erschien es mir, jemals noch darüber reden zu können. Und so hat er nie erfahren, warum meine Mutter an diesem Tag das Haus verlassen hat und im Nebel über die Landstraße lief. Auf der Suche nach mir.“
Emily schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Niclas, natürlich hat dein Vater deine Mutter geliebt und war verzweifelt, aber er liebt auch dich, das hat er damals getan und tut es heute noch. Selbstverständlich hat er getrauert, aber du bist sein Sohn, du bist auch alles, was er noch hat. Denkst du wirklich, er würde dich hassen? Nic, du warst ein Junge von elf Jahren, der sein neues Fahrrad ausprobieren wollte und dabei die Zeit vergessen hat. Wie oft, denkst du, kommt das täglich in tausenden Städten und Orten dieser Welt vor? Was glaubst du, wie oft ich als Kind zu spät nach Hause gekommen bin, weil ich die Zeit irgendwo verbummelt habe?“ Sie beugte sich vor und sah Niclas direkt in die Augen, als sie eindringlich sagte: „Nic, es war nicht deine Schuld! Es war nicht deine Schuld! Es war einfach eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Das schlechte Wetter, du, der nicht auf die Uhr geschaut hat, aber doch damit nichts Schlimmes anrichten wollte. Du warst ein Kind, Niclas! Dann der betrunkene Fahrer, der sich niemals hätte ins Auto setzen dürfen und der ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt diese Strecke entlangfuhr. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er sicher schneller reagieren können. Oder aber wenn deine Mom nur zwei Minuten später aus dem Haus gegangen wäre, wäre er schon vorbei gewesen. Du siehst, es gibt so viele Faktoren, so viele Wenn und Aber ... Es war ein schreckliches Unglück, aber es war nicht deine Schuld! Bitte, du darfst dich nicht weiter selbst zerstören, du musst damit aufhören, bitte!“ Sie lehnte sich wieder zu ihm und zog seinen Kopf zu sich heran. Ihre Stimme zitterte.
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