Für immer, Emily (German Edition)
Emily am Arm festhielt, hatte er nicht mehr nachgedacht, sondern nur noch gehandelt. Alles, was er in diesen Minuten gewollt hatte, war, dass der Kerl seine Hände von ihr wegnahm und es ihr gut ging.
Er holte Teebeutel aus dem Schrank und schüttelte den Kopf. Sie hatte im Kopierraum Todesängste ausgestanden, und sogar vor den harmlosen Spaziergängern neulich im Park hatte sie sich gefürchtet. Und nun ging sie hin und stellte sich zwischen den bescheuerten Angeber Rocco und den kleinen Emmanuel. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese Idioten mit dem Kleinen umgesprungen waren. Er hatte Emily noch nicht gefragt, was genau passiert war, sie war sowieso schon völlig von der Rolle, aber er konnte es sich auch so denken.
Rocco war skrupellos. Es hatte schon einige Vorfälle gegeben, in denen es zu Auseinandersetzungen gekommen war, aber ihm wurde nie etwas angehängt. Sein Vater winkte mit einem dicken Scheck und der Direktor ließ sich darauf ein.
Emily hatte Glück gehabt, ihr selbst war das allerdings nicht so bewusst, denn sie war ja noch relativ neu hier und hatte von den Vorfällen nichts mitbekommen. Und es war ihr Glück gewesen, dass er dazu gekommen war. Er wusste selbst nicht genau, warum, aber Rocco fürchtete ihn. Aber eines wusste er genau: Wenn dieses Schwein Emily heute wehgetan hätte, er hätte keine Sekunde gezögert, ihm eine Abreibung zu verpassen, die er sein Leben lang nicht vergessen würde.
Das Wasser kochte und Niclas füllte es in die vorgewärmte Kanne. Dann stellte er Zucker und einen Teller mit Keksen auf ein Tablett und trug alles hinüber ins Wohnzimmer.
Emily stand vor dem Kaminsims und betrachtete das Bild seiner Mutter. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab und trat neben sie.
„Deine Mom?“, fragte sie leise.
Er nickte. „Ja, das war kurz vor ihrem Tod.“
„Sie war sehr hübsch. Aber du siehst ihr gar nicht ähnlich.“
Niclas lächelte. „Nein, ich komme nach meinem Vater. Nur die Augen habe ich von meiner Mutter geerbt.“
Emilys Blick strich über das Foto, das in einem hübschen Rahmen steckte. Die junge Frau darauf war ihr auf Anhieb sympathisch. Sie hatte mittellange, dunkelblonde Haare und ein offenes Lächeln. Niclas‘ Lächeln. „Du siehst deinem Dad ähnlich? Aber das Lächeln hast du von deiner Mom, definitiv.“
Niclas sah sie an, und eben dieses Lächeln legte sich jetzt etwas verlegen auf sein Gesicht. „Findest du?“
Emily nickte. „Ja.“
„Mein Dad sagt immer, ich sei ihr auch sonst ziemlich ähnlich. Manchmal fällt es mir schwer, über Dinge zu reden, die mich beschäftigen, und sie war wohl genauso.“
Emily sah ihn an und spürte wieder dieses eigenartig ziehende Gefühl in ihrer Brust. Vorhin, als er plötzlich aufgetaucht war und sich zwischen sie und Rocco gestellt hatte, da war er ihr stark und selbstbewusst erschienen, aber jetzt wirkte er ganz anders. Nachdenklich und manchmal unsicher. Und sie wusste nicht, welche Seite an ihm sie mehr mochte. Vermutlich alles. Sie mochte ihn einfach so, wie er war. Sie lächelte ihm zu.
„So, komm, setz dich und trink eine Tasse Tee, sonst wird er kalt. Magst du Pfefferminztee? Ich hab vergessen zu fragen.“
Sie nickte. „Ja, den mag ich gerne. Danke.“
Niclas schenkte ein und reichte ihr eine Tasse. „Hier hab ich auch was zu essen, wenn du magst.“
Emily nahm einen Schluck von dem heißen Getränk. „Nein, danke, ich glaub, ich bekomme nichts runter.“ Sie sah ihn entschuldigend an.
„Macht nichts. Aber später, okay?“
Sie nickte und senkte den Blick. Es ging ihr zwar jetzt ein wenig besser, vor allem körperlich, aber tief im Inneren hatte dieser Vorfall sie so sehr geschockt, dass sie sich am liebsten weinend in eine Ecke gesetzt hätte und nie wieder aufgestanden wäre.
Damals, nach dieser schrecklichen Nacht, hatte sie jedes Gefühl von Sicherheit verloren gehabt. Sie hatte sich wie ein Blatt im Wind gefühlt, das jeden Moment von einem Sturm erfasst werden und irgendwohin geweht werden konnte, wo es gar nicht hin wollte. Und nur mit Hilfe der Psychologin war es ihr gelungen, im Alltag wenigstens einigermaßen wieder ein Gefühl von Sicherheit zu entwickeln. Heute allerdings war ihr wieder schlagartig klar geworden, dass es keine Sicherheit gab. Es konnte einem ständig und überall und wie aus heiterem Himmel etwas Schreckliches widerfahren. Und das war das Schlimmste für jemanden wie sie. Dr. Schuler hatte ihr damals erklärt, dass Sicherheit für Menschen mit
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