Für jede Lösung ein Problem
nicht mehr.
Mich würde sowieso keiner vermissen.
Und wenn doch, dann hätten sie sich mal früher um mich kümmern sollen.
»Sie haben E-Mail bekommen«, sagte der Computer zu mir.
»Mir doch egal«, sagte ich zu dem Computer. Dann schaute ich aber doch nach. Vielleicht kamen die »Sie haben gewonnen«-Anrufejetzt per E-Mail. Aber nur Britt Emke, jetzt Freifrau von Falkenstein, hatte geschrieben, und mein Cousin Harry.
»Liebe ehemalige Mitabiturienten und Mitabiturientinnen« , schrieb Britt. Ich würde ein ernstes Wort mit Charly reden müssen, weil sie Britt meine E-Mail-Adresse verraten hatte. Wahrscheinlich würde sie mir ab sofort immer Fotos von ihren adligen Stammhalter-Kindern mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf zuschicken. Aber eigentlich spielte das ja keine Rolle mehr, denn ich würde ja an Weihnachten längst nicht mehr leben. »Der Termin für unser Treffen steht fest: Am dritten Juni dieses Jahres werden wir unser Wiedersehen feiern. Bis jetzt liegen uns sechs verbindliche Anmeldungen vor und vierzehn Absagen. Ein/e MitschülerIn ist leider verstorben. Achtundneunzig Rückmeldungen stehen noch aus. Bitte meldet euch bald, damit Klaus Köhler und ich die Reservierung entsprechender Räumlichkeiten vornehmen können.«
Ein/e MitschülerIn war leider verstorben? Wer denn? Und woran war er/sie verstorben? Warum verriet Britt uns nicht seinen/ihren Namen, und warum machte sie sogar ein Geheimnis um das Geschlecht? Wahrscheinlich war das nur ein billiger Trick, um uns alle zu dem Klassentreffen zu locken.
Was würde Britt wohl schreiben, wenn sie von meinem Selbstmord erfuhr? »Leider ist inzwischen ein/e weitere/r MitschülerIn verstorben, wenn ihr erfahren wollt, wer es ist, kommt alle am dritten Juni.«
Vielleicht sollte ich die Angelegenheit so timen, dass das Klassentreffen und meine Beerdigung auf denselben Tag fielen?
Ich schaute auf den Kalender. Nein, so lange würde ich wohl nicht warten können. Wir hatten jetzt Ende April, und ich wollte die Sache möglichst zügig hinter mich bringen. Ein bis zwei Wochen würde ich für eine gründliche Vorbereitung benötigen, mehr nicht. Ich hatte auch gar keine Zeit zu verlieren: Ohne Job würde mir bereits Mitte Juni das Geld ausgegangen sein.
Außerdem fand Tante Alexas Silberhochzeit am dritten Mai-Wochenende statt, und da wollte ich auf keinen Fall dabei sein. Jedes Familienmitglied musste dort – solo – einen selbstgedichteten Vierzeilervortragen, und zwar gesungen, auf die Melodie von »Horch, was kommt von draußen rein«, begleitet von meinem Cousin Harry auf dem Klavier. Mir war bis jetzt noch nichts eingefallen außer: »Onkel Fred, der trägt ’nen Frack, hollahi, hollaho, ist der Mann ein blöder Sack, hollahihaho!« Aber Onkel Fred war eigentlich ganz nett, Tante Alexa war die Blöde von beiden, nur die trug ja keinen Frack.
Die Familienfeiern in der Familie meiner Mutter waren immer fürchterlich. Es gab einen Haufen weißhaariger Großtanten, die alle gleich aussahen und einen immer fragten, ob man »ein bisschen fülliger« geworden sei. Die dazugehörigen Großonkel sagten »Aber das steht dir gut« und verabreichten einem Klapse auf den Po, so als ob das ein gängiges Verwandtschaftsritual sei. Die Cousinen und Cousins mit Kindern wollten mir weismachen, dass sie bereits meine biologische Uhr ticken hörten, und meine Mutter zischte ständig: »Halt dich gerade!«, wenn sie in Hörweite war.
Selbst das allerbeste Catering konnte diesen Psychoterror nicht wettmachen. Schon Tante Alexas Hochzeit vor fünfundzwanzig Jahren war mir nicht gerade in bester Erinnerung geblieben.
Tante Alexa war die jüngste von Mamas insgesamt vier Schwestern, und ihre Hochzeit war ein großes Ereignis gewesen, mit zweihundert geladenen Gästen im Park des Schlosshotels, prächtigen Stoffpavillons, einem Streichorchester und dem für dieses Ereignis aus ganz Deutschland zusammengezogenen Meißner Porzellan und Silberbesteck der Familie. Alle meine blonden Schwestern und Cousinen hatten rosafarbene Satinkleider genäht bekommen, und sie trugen rosa Blumenkränzchen im Haar und mit Stoff gefütterte Körbchen voller Rosenknospen.
Nur ich hatte die ganze Zeit in meinem blöden dunkelblauen Kleid neben meinen Eltern stehen müssen, weil ich als Blumenmädchen mit meinen dunklen Haaren die Hochzeitsfotos und den blonden Gesamteindruck ruiniert hätte, wie Tante Alexa erklärte.
Selbst meine Mutter fand das übertrieben, aber Tante Alexa blieb
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