Für Nikita
über gesunde Ernährung und richtige Lebensweise, Erfinderin origineller Methoden zum Kampf gegen
das Rauchen und Trinken, Soja Astachowa, rauchte eine nach der anderen. Und nicht nur das. Vor ihr auf dem verdreckten Tisch
stand eine Wodkaflasche, auf einem Teller lagen dicke Scheiben fetter Wurst.
Die Cheflektorin des größten russischen Verlags »Kaskad« war stockbetrunken. Sie saß in einem alten Frotteebademantel und
zerschlissenen Pantoffeln allein in ihrer teuren, schönen Küche, kippte ein Glas nach dem anderen, kaute dazu Wurst und weinte.
Anders wurde sie mit ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Angst nicht fertig. Sie wußtesehr gut, daß kein autogenes Training, keine Meditation, kein Heilfasten, keine eiskalten Wassergüsse, kein stundenlanges
Yoga, und was es sonst noch an gesunden Prozeduren gab, ihr helfen konnten. So elend hatte sie sich noch nie gefühlt.
In fünfzig Jahren hatte sie natürlich einiges durchgemacht. Das Leben war nie sanft mit ihr umgegangen. Geboren wurde sie
in einem armseligen Dorf bei Moskau in einer windschiefen Blockhütte. Als Kind wurde sie von ihrem betrunkenen Vater verprügelt,
als junges Mädchen verlassen von dem Mann, den sie liebte. Aber Soja gab nicht auf. Sie wußte, sie mußte stark und gesund
sein, mußte mit dem Kopf durch die Wand, um in diesem hundsgemeinen, erbarmungslosen Leben ihren Weg zu machen.
Das gelang ihr auch. Sie bestand die Aufnahmeprüfung am Medizinischen Institut der Moskauer Universität, heiratete einen Moskauer.
Sie blieben zwar nur anderthalb Jahre zusammen, aber Soja bekam das Wohnrecht in Moskau und ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung,
und mehr hatte sie von ihrer Heirat eigentlich auch nicht gewollt. Dann verteidigte sie ihre Doktorarbeit, schrieb zwei Bücher
über gesunde Ernährung und begann endlich Geld zu verdienen. Richtiges Geld.
Was dieser erfolgreiche Weg sie gekostet hatte, spielte keine Rolle mehr. Sie hatte etwas aus sich gemacht, aus dem Nichts,
aus einer gehemmten, ungebildeten dicken Dorftrine, deren grobe Hände allenfalls Kühe melken und einen Schweinestall ausmisten
konnten.
Was war ich früher, und was bin ich heute – sagte sie sich jedesmal, wenn sie ihre ältere Schwester Ljudmila in Powarowka
besuchte.
Ljudmila war acht Jahre älter als Soja, hätte aber vom Aussehen her gut und gern ihre Mutter sein können. KeineZähne mehr, die Haare zu einem dünnen grauen Knoten gebunden, trübe, müde Augen. Sie hatte früh geheiratet, den Taugenichts
Shenka Sliwko aus ihrem Dorf. Nicht weil sie ihn liebte, sondern aus Angst, sonst gar keinen mehr abzubekommen.
Shenka Sliwko trank seit seinem vierzehnten Lebensjahr, mit fünfundzwanzig war er Alkoholiker. 1962 kam Anton zur Welt, ein
schwächliches Siebenmonatskind. Ljudmila legte mit heißem Wasser gefüllte Wodkaflaschen ins Bettchen – ein Frühchen brauchte
vor allem Wärme.
Soja hatte bereits die achte Klasse hinter sich und besuchte die Medizinische Fachschule. Sie kümmerte sich gern um den kleinen
Anton. Er war komisch und zärtlich. Sein erstes Lächeln galt ihr, Soja. Sie war dabei, als er sich zum erstenmal auf seine
wackligen Beinchen erhob und die ersten zaghaften, unsicheren Schritte machte.
Ljudmila sorgte sich mehr um ihren Mann als um ihren kleinen Sohn. Was sollte sie denn anfangen ohne Mann? Und daß er trank
– ach, alle tranken. Er schlug seine Frau? Na und, das war normal. Er schlug sie, also liebte er sie. Er brachte kein Geld
nach Hause? Na und, machte Geld etwa glücklich?
»Was denn sonst? Was bedeutet Glück für dich, Ljudka?« fragte die fünfzehnjährige Soja ihre ältere Schwester.
»Na ja«, Ljudmila hob die vollen, runden Schultern und seufzte tief, wie eine alte Frau, »daß alle gesund sind, daß es keinen
Krieg gibt und daß ich mir nächstes Jahr zu den Maifeiertagen ein Silastikkleid kaufen kann, rosa mit schwarzer Borte.«
Zu den Maifeiertagen im nächsten Jahr mußte Shenka unbedingt im See baden. Das Wasser war noch kalt, Shenka bekam einen Wadenkrampf
und ertrank. Ljudmila heulte einen Monat lang wie eine Wölfin bei Vollmond. Dann beruhigtesie sich und lebte fortan still vor sich hin, zog Anton groß, buddelte im Gemüsegarten, versorgte ihre alte Kuh.
Soja hatte inzwischen die Fachschule beendet und sich am Medizinischen Institut der Moskauer Universität beworben. Erst beim
dritten Anlauf wurde sie genommen. Zwei Jahre mußte sie noch als Schwester in einem
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