Für Nikita
Schwierigkeiten oder Probleme
haben. Die einen brauchen das als Antrieb, die anderen als Rechtfertigung. Glücklichsein dagegen ist unbequem, unanständig.
Man könnte ja für betrunken gehalten werden oder einfach für einen Idioten. Nur wenige sind nicht aus Dummheit oder im Suff
glücklich, sondern vom Kopf her. Dazu braucht man nicht nur Verstand, dafür braucht man auch Talent, um zu erkennen, was für
ein wunderbares und im Grunde zufälliges Geschenk das Leben ist. Jedes Leben, auch das des allerletzten Penners und Wermutbruders.
Das klingt bestimmt komisch aus dem Mund eines Mannes, der jeden Tag in Leichen rumwühlt, oder?«
»Nein.« Nika schüttelte den Kopf. »Gerade aus deinem Mund klingt das ziemlich überzeugend.«
Der Kellner kam, und während er Teller und Besteck verteilte, rauchte Petja schweigend und sah an Nika vorbei, durch seine
getönten Brillengläser gleichsam abgeschottet von der Welt.
»Petja, wenn du Angst hast, daß wir belauscht werden – also, das glaube ich kaum«, sagte Nika, als der Kellner gegangen war.
»Nicht direkt Angst« – Lukjanow zuckte die Achseln –, »aber trotzdem möchte ich darüber lieber nicht in der Öffentlichkeit
reden. Ich bin ein Feigling geworden, Nika. Es ist beschämend für einen Mann, das zuzugeben, aber es nicht zugeben und geheimnisvoll
tun ist noch beschämender.«
»Du bist irgendwie so nervös. Erschöpft?«
»Meine Toten sind ein friedliches Völkchen, da geht’s anders zu als in deiner Unfallchirurgie.«
»Tut es dir leid, daß du in die Gerichtsmedizin gegangen bist? Ich weiß noch, im ersten Studienjahr bist du im Anatomiesaal
ganz blaß geworden.«
»Im letzten Studienjahr wurde ich noch viel blasser. Aber nicht in der Anatomie. Je tiefer ich in die Medizin eindrang, desto
klarer wurde mir, daß ich nichts weiß.«
»Du warst einer der besten in unserem Jahrgang. Du wärst ein guter Diagnostiker geworden.«
»Das bin ich auch. Meine Fehlerquote ist relativ gering. Und an meinen Fehlern ist noch niemand gestorben. Dafür bekomme ich
jeden Tag die Fehler von anderen zu sehen. Weißt du, was mich am meisten schafft? Nicht die zertrümmerten Schädel und zerstückelten
Körper, nicht der in meinem Beruf alltägliche Horror. Da ist wenigstens alles klar, da war eben ein Mörder am Werk. Dafür
wird er sich zu verantworten haben, das heißt, wenn man ihn findet. Mich schaffen die Toten, die Glück hatten. Die sorgfältig
und gewissenhaft behandelt wurden, mit neuester Technik und teuersten Präparaten, nach allen Regeln der Kunst. Und dann trotzdem
mit fünfunddreißig gestorben sind.«
»Aber Petja, was soll das? Die Medizin ist nicht allmächtig. Gegen Fehler und Unfälle ist niemand gefeit. Und in der Onkologie,
da hilft sowieso nichts …«
»Weißt du, Nika, ich muß dir was Schlimmes sagen. Im sechsten Studienjahr begriff ich auf einmal, daß fast alle Gebiete der
Medizin abstrakte, tote Wissenschaften ohne jeden praktischen Sinn sind. Und das sehe ich heute Tag für Tag bestätigt. Was
schaust du mich so an? Keine Angst, ich bin nicht verrückt geworden bei meinen Toten.«
»Petja, meine Unfallchirurgie ist keine abstrakte, tote Wissenschaft.«
»Ich weiß, Nika, du bist eine gute Ärztin. Weil du klug bist und verantwortungsbewußt. Plus Wissen und Erfahrung. Du arbeitest
mit den Händen und mit dem Kopf, du würdest niemals einen Schnupfen mit einer Pferdedosis Sulfonamide und Glucocorticoide
behandeln.«
»Sag bloß, so was ist dir schon untergekommen?«
»Auf Schritt und Tritt. Erst gestern wurde bei mir eine Frau eingeliefert, zweiunddreißig, zwei kleine Kinder. Ich gehe die
Krankengeschichte durch und stelle fest – sie war überhaupt nicht krank. Ich sehe mir den Totenschein an und begreife: Da
wurde ein völlig gesunder Mensch einfach so zugrunde gerichtet. Natürlich nicht böswillig und ohne jede Gewinnsucht. Sie hatte
eine simple Neurose. Sie lebte mit ihrer Schwiegermutter in einer Einzimmerwohnung. Sie hätte einfach mal Erholung gebraucht,
einen Tapetenwechsel. Aber dafür hatte sie weder Zeit noch Geld, außerdem waren die Kinder ja noch klein. Und dann der naive
Glaube an den guten Onkel Doktor, der alle heilt und gesund macht. Nur geriet sie nicht an einen guten Onkel Doktor, sondern
an eine dumme Gans. Die verschrieb ihr ohne jede weitere Untersuchung, ohne die simpelsten Labortests einen Haufen Psychopharmaka
und Hormonzeug.In gewaltigen Dosen. Es kam
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