Fürchte deinen Nächsten!
weiterhin deine Untaten begehen?«
»Untaten?« Er schüttelte den Kopf. »Ein häßliches Wort. Ich will ciie Menschen aufrütteln. Fürchte deinen Nächtsen! Sie sollen wachsam sein. Es sind meine Gebote!«
»Nicht die der Hölle?« fragte ich.
»Ahhh«, dehnte er, »so kommen wir der Sache schon näher. Du sprichst die Hölle an. Kennst du sie?«
»Ich habe zumindest von ihr gehört.«
Diesmal erhielt ich keine Antwort. Meine Worte mußten ihn nachdenklich gemacht haben, denn er schaute mich aus recht kleinen Augen an und legte seine Stirn in Falten. »Nichts gegen dich, Marcella, aber ich glaube deinem Begleiter. Er hat etwas. Da ist etwas in ihm. Das konnte ich spüren, noch bevor ich ihn gesehen habe. Da bin ich sensibel. Du hast dir einen mächtigen Partner geholt, gratuliere. Ich freue mich schon darauf, gegen ihn zu kämpfen und ihn dann auf den Altar zu legen. Ich werde ihn zerhacken, aber ich werde ihn mir bis zum Schluß aufbewahren. Zuvor habe ich noch andere Dinge zu erledigen. Es gibt Menschen, die mir nicht gefallen haben, weil sie mich ärgerten. Mit ihnen muß ich zuvor noch abrechnen. Danach seid ihr an der Reihe.« Bei den folgenden Worten zeigte sein Gesicht Bedauern. »Leider kann ich euch keine Zeit sagen, wie lange ihr noch zu leben habt, aber ich würde sagen: Nutzt die Stunden gut aus. Denkt immer daran: Fürchtet euren Nächsten!«
»Ja«, sagte ich, »wir haben verstanden, Judas. Und ich denke, daß wir nicht mehr lange so leben sollen, denn du hast von Stunden gesprochen.«
»Das ist richtig.«
»Dann müßten wir hier bei dir in der Zelle bleiben, nicht wahr?«
Jetzt fing er an zu lachen. »Raffiniert, John Sinclair, sehr raffiniert, wirklich. Aber ich kann dich beruhigen. Ihr könnt gehen, und ich werde euch finden.«
»Das heißt, du verläßt die Zelle hier?«
»Klar«, antwortete er offen. »Wie immer. Wie auch bei den letzten Taten. Die nächste Person steht bereits auf meiner Liste. Sie hat mich geärgert, und sie glaubt auch, schlau zu sein. Aber ich bin besser. Zur Beruhigung möchte ich sagen, daß ihr noch etwas Zeit habt. Zunächst muß ich mich mit der anderen Person beschäftigen, denn sie hat es wirklich verdient. Daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Warum tust du das?« flüsterte ich.
»Ganz einfach. Weil ich nach bestimmten Regeln lebe. Mir gefallen sie. Es sind meine Gebote.«
»Verstehe«, antwortete ich leise. »Und es gibt nichts, vor dem du dich fürchtest?«
»Nein, John, auf keinen Fall. Die anderen sollen sich vor mir fürchten. Nicht umgekehrt. So ist das nun mal. Ich fürchte mich nicht, denn ich bringe nur den Schrecken.«
Marcella Ash reckte ihm ihr Kinn entgegen. »Sag uns, wie du hier herauskommst, Judas?«
Er lachte. Erst leise, dann lauter, aber es wurde nie so laut, daß wir es als störend empfanden. Er amüsierte sich über uns und über unsere Unwissenheit. Nach dem Gelächter winkte er mit beiden Händen ab. »Euer Denken ist so begrenzt, wie es nur eben sein kann. Es ist einfach nicht mehr wahr. Ich mache euch keinen Vorwurf, weil ihr eben Menschen seid. Ihr seid nicht in der Lage, über den Rand des Tellers hinauszuschauen. Was sind schon Mauern? Was sind Mauern oder Gitter für einen wie mich, der über allem steht? Nichts, gar nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nicht möglich, mich festzuhalten. Damit müßt ihr euch abfinden.«
»Dann schaffst du es, durch Mauern und Wände zu gehen?« fragte ich. Von Marcella erntete ich ein Kopfschütteln, aber ich hatte meine Frage schon ernst gemeint.
»Was glaubst du?«
»Alles.«
»Das ist gut. Das habe ich schon bei deinem Eintreten gemerkt. Du bist anders.«
»Ich möchte eine Antwort.«
»Such sie dir, John.« Er stand plötzlich auf. Es geschah mit einer geschmeidigen Bewegung. Meine Knochen wären vom langen Sitzen recht steif gewesen, aber Judas bewegte sich schon schlangengleich. Er stand vor uns, und ich sah, daß er kleiner und schmaler war als ich. Wer ihn so sah, der glaubte eher an einen netten Schwiegersohn als an einen verdammten Killer.
Ich konzentrierte mich wieder auf seine Augen. Zum erstenmal entdeckte ich darin so etwas wie Gefühl. Natürlich kein positives, so etwas kam bei ihm nicht vor. Ein gewisses Mißtrauen. Etwas störte ihn gewaltig, und er nahm eine andere Haltung ein. Auf mich wirkte er, als wollte er zurückweichen.
So etwas mußte ich ausnutzen. »Spüre ich Angst?«
»Meinst du mich?«
»Wen sonst?«
Er lachte mich scharf an.
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