Fürchte deinen Nächsten!
dieser Zeit gibt es in London einen Weihnachtsjahrmarkt. Ich weiß zwar nicht, was das mit Weihnachten zu tun haben soll, aber das ist jetzt nicht mein Thema. Der Markt ist voller Menschen, und, lachen Sie mich nicht aus, ich würde mich dort sicherer fühlen.«
»Um Himmels willen«, sagte Suko. »Ich werde Sie auf keinen Fall auslachen.«
»Danke.«
»Wenn Sie glauben, daß wir uns dort aufhalten sollen, dann tun wir es. Lassen Sie uns hinfahren. Eine absolute Sicherheit kann ich Ihnen allerdings auch nicht garantieren.«
»Ich weiß selbst, daß es die nicht gibt. Niemals im Leben. Ich möchte nur meine Chancen erhöhen.«
»Verstehe!«
»Würden Sie mich begleiten?«
Suko lachte. »Keine Frage. Wann wollen Sie gehen?«
»Sofort.«
»Dann kommen Sie…«
***
Qualen, Pein, schreckliche Schmerzen. Das Reißen, das er in jedem Teil seines Körpers spürte, obwohl er nicht sichtbar vorhanden war. Delany war körperlos für die anderen, nicht für sich selbst. Er fühlte sich von Kräften umgeben, die an ihm zerrten und rissen, als wollten sie jedes Atom einzeln aus seinem Verband lösen.
Er schrie! Vielleicht auch nicht? Vielleicht bildete er sich alles nur ein, aber er kannte das Gefühl, das bei diesen Verwandlungen immer in ihm hochkochte und gegen das er nicht ankam.
Schlagartig war es vorbei. Um ihn herum fauchte die Luft. Er hörte wie immer dieses seltsame Pfeifen, das auch aus einer Knochenflöte hätte stammen können, und er freute sich, als dieses letzte Zeichen allmählich verschwand.
Er war wieder da. Er war wieder sichtbar in dieser normalen Welt, und er fand sich auf einem kalten gefrorenen Boden wieder, umgeben von einer graublauen Dunkelheit, die auch nicht verschwand, als er die Augen so weit wie möglich öffnete.
Delany lag auf dem Boden. Er kam sich vor wie ein Geschlagener. Die Mordwaffe hielt er noch wie einen rettenden Balken umklammert. Blutreste des letzten Opfers klebten an der Klinge.
Judas brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Uber ihm war der Himmel nicht dunkel. Schwacher Widerschein der Großstadtlichter huschten über ihn hinweg und schienen sich an ihm festzuklammern. Er selbst lag in einer menschenleeren Gasse und konnte nur einen schmalen Ausschnitt des Himmels sehen. Die Gasse war mehr eine Einfahrt und teilte die Rückfront zweier Häuserzeilen. Fenster gab es dort kaum. Wenn, dann waren sie recht klein und auch nicht erleuchtet. Leer war die Gasse nicht, denn in seiner unmittelbaren Nähe standen Abfalltonnen, deren Inhalt überquoll. Der stinkende Müll breitete sich um die Tonnen herum aus. Sein Geruch schien in der frostklaren Nacht erstarrt zu sein.
Judas blieb sitzen. Er fühlte sich ausgelaugt. Ein Kind hätte ihn jetzt überwältigen können. Der Wechsel von einem Zustand in den anderen kostete ihn immer wieder einen Großteil seiner Kraft, und die Erholungsphasen wurden immer länger.
Er kroch zur Seite, bis er die kalte Mauer an seinem Rücken spürte. Nicht weit entfernt schimmerte ein Gullydeckel. Aus den Lücken quoll schaler Dampf hervor.
Judas blieb sitzen. Sein Blick war dabei auf die andere Wand gerichtet. In den Augen lag kein Leben. Sie wirkten wie starre Murmeln. Die Gedanken wanderten zurück. Er erinnerte sich wieder daran, wie er seine Eltern gesehen hatte.
Tot. Der Küchentisch. Die Küche, die voller Blut war. Wie er zusammengebrochen war. Überwältigt von einem irren Haß. Wie er dann aus dem Haus gerannt war, irgendwohin. Eine kalte Nacht, so kalt wie diese hier, und dann war der Unbekannte plötzlich erschienen. Auf einmal war er bei ihm gewesen. Er hatte ihn gepackt. Er hatte ihn zurechtgerüttelt, und er hatte mit ihm gesprochen.
Sehr lange und auch sehr intensiv. Von Rache. Vom Haß auf die Menschen, die es nicht wert waren, am Leben zu bleiben, weil sie einem falschen Herrn dienten.
Der Fremde hatte ihm erklärt, daß er der richtige Herr war. Daß er die Macht besaß, und er hatte Judas Delany den Vorschlag gemacht, ihm zu dienen, da er doch ohne Eltern und Verwandte war.
Delany stimmte zu.
Der Fremde war zufrieden. Beide schlossen einen Pakt, den sie mit Blut besiegelten. Delanys Blut war rot und normal gewesen, das des anderen nicht. Er hatte eine schwarze teerähnliche Flüssigkeit ausgespien und sie mit dem Blut des jungen Mannes vermischt. Dann hatte er das Gebräu trinken müssen.
Judas war wie benommen gewesen. Er hatte auch nicht daran gedacht, sich zu wehren. In seiner Lage war ihm alles gleichgültig
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