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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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abgehalten, wenn es über sie kam: in der Kapelle, in ihren Zellen, draußen im Hof. Er hat gesagt, die hätten in Zungen geredet, sich gegenseitig geheilt und über den Teufel gesprochen, als würde der gleich nebenan wohnen. Das Problem war nur, wenn sie so richtig in Fahrt kamen, haben die alles Brennbare rausgeholt, was sie kriegen konnten, haben es angesteckt und sind mit den Händen drübergefahren oder haben es sich ans Gesicht gehalten: Rasiercreme, Eau de Cologne, Reinigungssprays. Er hat gesagt, wenn man die Feuerzeuge und Streichholzbriefchen konfisziert hat, damit sie das Zeug nicht mehr anstecken konnten, haben sie’s einfach geschluckt. Aber nicht einer von diesen Spinnern hat sich verbrannt oder ist je krank geworden. Er hat gesagt, Chambliss hat sich da eine kleine Anhängerschaft geschaffen, und das Einzige, was die Leute von ihm fernhalten konnte, war Einzelhaft. Der Gefängnisdirektor hat aus Chambliss keinerlei Erklärung rausgekriegt, warum die sich so aufgeführt haben, aber einer von seinen Anhängern hat ihm gesagt, in der Bibel würde stehen, dass Jesus seinen Jüngern gesagt hat, nach seinem Fortgang wären sie in der Lage, alle möglichen gefährlichen Dinge zu tun, ohne dass es ihnen schadet. Das wäre dann ein Zeichen ihrer Rechtschaffenheit. Ich habe es nicht geglaubt, bis ich nach Hause kam und ein bisschen in meiner Bibel rumgesucht habe, und tatsächlich, das steht genau so im Markusevangelium.« Ich hörte seinen Schreibtischsessel quietschen und stellte mir vor, wie Sheriff Nicks weit zurückgelehnt dasaß, Stiefel auf dem Schreibtisch, die Füße übereinandergelegt, den Hut im Schoß.
    Als er das Markusevangelium erwähnte, sah ich plötzlich das neue Schild draußen vor Chambliss’ Kirche vor mir. Ich erinnerte mich an die genauen Verse: Markus 16 : 17–18 . Ich beendete das Gespräch mit Nicks, und als ich an dem Abend nach Hause kam, holte ich Sheilas Bibel aus ihrem Nachttisch, blätterte darin herum, bis ich die Verse fand, und las sie halblaut vor mich hin: »Und durch die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; wenn sie Schlangen anfassen oder tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden; und die Kranken, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden.«
    Nachdem ich das gelesen hatte, wurde mir einiges klarer. Eine schlimme Verbrennung durch die Explosion eines Meth-Labors in Georgia wird zum Zeichen von Frömmigkeit und Macht im westlichen North Carolina. Hing ganz davon ab, wer die Geschichte erzählte, selbst wenn in dieser Geschichte ein totes junges Mädchen aus Mississippi vorkam. Plötzlich verstand ich, wie Gillum sich einreden konnte, dass es notwendig war, seine Scheune abzufackeln, und plötzlich verstand ich, wieso sich Leute hinter mit Zeitungen zugeklebten Fenstern versteckten, während sie ihren Gottesdienst feierten, und endlich wurde mir klar, was in diesen kleinen Kisten war, die sie jeden Mittwochabend und Sonntagmorgen in die Kirche rein- und wieder raustrugen. Aber was hatte ich außer diesen Vermutungen? Was konnte ich tun? Einen Mann festnehmen, weil er seine Religionsfreiheit ausübte? Das reichte nicht, um an Kirchentüren zu klopfen, Versammlungen und Gottesdienste zu unterbrechen. Aber diesmal war keine sechzehnjährige Ausreißerin gestorben, sondern ein dreizehn Jahre alter stummer Junge, ein Junge, der nicht fähig gewesen war, zu Chambliss »ja« oder »nein« oder »aufhören« zu sagen, selbst wenn er gewollt hätte. Diesmal war es anders, das wusste ich.

    Als ich vor Adelaide Lyles Garten hielt und den Motor abstellte und dann das Blaulicht ausmachte, sah ich nichts, was mich überrascht hätte. Ich griff ins Handschuhfach, holte meine Dienstmarke heraus und steckte sie mir ans Hemd, dann öffnete ich die Tür und stieg aus und blickte durch den Garten, der von der Lampe auf der Veranda beleuchtet wurde. Genau damit hatte ich gerechnet.
    Zwei Männer, noch immer in den Anzügen, die sie zur Kirche getragen hatten, waren offensichtlich zusammengeschlagen worden und bluteten; Adelaide Lyle und zwei andere alte Frauen verarzteten sie. Am Straßenrand stand Ben Hall, den Kopf auf die Motorhaube eines alten Pick-ups gelegt, der bestimmt seinem Daddy gehörte. Und da war Jimmy Hall selbst, der, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, irgendwie ein alter Mann geworden war. Er saß auf den Verandastufen und rauchte

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