Fuerstin der Bettler
atmete tief durch. Schon der erste Schritt jagte ihren Herzschlag in die Höhe, und ihr wurde schwindlig. Dann, mit jedem Schritt, den sie sich trotzig abrang, wurde sie mutiger.
Hatte sich das Gesetz dieser Stadt darum gekümmert, was mit ihr geschehen war? Nein. Man hätte sie beinahe umgebracht.Und sie wollte wissen, wer und was dahintersteckte. Sie stapfte, zornig auf sich und auf ihre Hemmungen, die Treppe hinauf, bis sie bei der Bettlerin ankam.
»Wir sollten nur etwas leise und vorsichtig sein«, mahnte die Schwarze Liss schief lächelnd.
Ihre Blicke trafen sich kurz. Hannah atmete tief durch und stand jetzt mit vor Anstrengung klopfendem Herzen und weichen Knien auf dem hölzernen Wehrgang.
»Da lang.« Die Bettlerin übernahm wieder die Führung. Sie gingen in Richtung Norden weiter. Hannah konnte durch die Schießscharten hindurch die nach Osten verlaufende, an die Mauer ansetzende Mauererweiterung erkennen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich dem Unglücksort unbeobachtet genähert hatten. Tatsächlich konnten sie den Brandherd von oben her gut einsehen.
»Sie haben drei Leichen darin entdeckt«, teilte die Bettlerin Hannah auf dem Weg dorthin mit.
Hannah brauchte ein wenig Zeit, bis sie begriff, was das bedeutete, und Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Familie war tot.
»Drei Leichen?«, hakte sie nach.
»Einen Mann, zwei Frauen. Alle drei bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Man munkelt, es seien der Apotheker und seine Familie, die Frau und das Kind.«
Hannah musste schlucken. Das bedeutete, dass auch ihre Tochter verbrannt war. Als würde man ihr ein brennendes Holzscheit in die Gedärme bohren, fühlte sie den Schmerz in ihrem Bauch. Ihre Gedanken waren wie früher Nebel, der sich ausbreitete und alles verschluckte. Doch dann tauchten in dieser Nebelbrühe Inseln des Verstehens auf. Etwas stimmte nicht.
»Hast du gesagt, drei Leichen? Aber ... das kann nicht sein«, stieß Hannah hervor. »Ich stehe doch hier.«
»Ich war nicht dabei – aber das ist das, was ich weiß und was sich alle erzählen. Du bist jetzt die Röttel, nicht mehr die Apothekerin, vergiss das nicht!«, mahnte die Schwarze Liss.
Jetzt fuhr Hannah auf und legte all die Wut, die sich in ihr angestaut hatte, in diesen einen Satz. »Ich bin nicht die Röttel, ich bin ...« Weiter kam sie nicht, weil ihr die Schwarze Liss den Stock in den Bauch rammte und nach unten wies.
Sie waren über den Aufstieg hinaus und den Wehrgang entlanggegangen. Zur Stadt hin hatte der Gang ein offenes Geländer. Nur hinter den Schießscharten, die mit beweglichen hölzernen Kugeln mit Durchstich ausgestattet waren, hatte man mannshohe Verschalungen angebracht. Sie sollten Brandpfeilen oder Kugeln den Weg über den Gang hinaus und ins Quartier dahinter verwehren. Hinter eine dieser Bretterwände drängte die Schwarze Liss Hannah zurück. Sie kauerten sich hin und blickten auf die Verwüstung unter ihnen. Von dort aus hatten sie einen guten Überblick über die Häuserzeile hinter der Mauer.
Hannah verschlug es die Sprache. Die Apotheke war verschwunden. Das Haupthaus, die Bäume des kleinen Gartens, das Hinterhaus mit dem Labor, alles war ein Raub der Flammen geworden. Als hätte man aus einem Gebiss einen Zahn ausgebrochen, klaffte die Lücke zwischen den Häusern, schwarz und wie verkrustet von altem Blut. Nur das gemauerte Untergeschoss war erhalten, obwohl die Sandsteine ausgeglüht und zum Teil geborsten waren. Von der Treppe ins Obergeschoss und von den tragenden Stützbalken waren nur noch Stümpfe vorhanden. Die restlichen Balken lagen wüst übereinander wie das Gerippe eines längst aus dieser Welt gegangenen Tieres.
Mitten in diesem verkohlten Chaos standen zwei Männer und unterhielten sich mit lebhaften Gesten. Einer von ihnen war der Stadtpfleger Heinrich Stolzhirsch, so viel konnte Hannah erkennen. Im Hintergrund wartete ein Bär von einem Mann mit verschränkten Armen, die Hände in leinenen Handschuhen, die nur die Fingerspitzen freiließen. Er hatte rote Haare, die abstanden wie ein Besen, und trug ein dunkelrotes Wams. Sie kannte ihn ebenso wenig wie den, der sich mit dem Stadtpfleger unterhielt. Der trug ein helles Wams, dazu bunte Beinlinge und einen Hut, an dem zwei buschige Straußenfedern wippten.
»Was tun die drei da?«, fragte Hannah lauter, als es geboten war.
Sofort unterbrachen die beiden Männer ihr Gespräch und blickten umher, als hätten sie Hannahs Stimme gehört.
»Wenn du so weitermachst, wirst du
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