Fuerstin der Bettler
packte sie an den Oberarmen.
»Es war ein Fehler, was du eben gemacht hast«, begann sie. »Wir dürfen uns den Dürren Karl nicht zum Feind machen.«
»Warum? Soll er mich etwa anfassen dürfen?«, gab Hannah zurück.
»Darum geht es nicht.« Die Schwarze Liss redete schleppend, so als fiele es ihr schwer, das zu sagen, was sie jetzt sagen musste. »Wir müssen irgendwo schlafen. Wenn wir nicht im Fledermausturm unterkommen, müssen wir in der Gosse nächtigen oder in einer Kirche Unterschlupf suchen.«
»Dann tun wir das eben«, antwortete Hannah trotzig.
Mitleid lag im Blick der Bettlerin, als sie Hannah losließ. »Du bist wirklich noch nicht die Röttel, sonst würdest du das nicht sagen. Glaubst du, auf der Straße lässt man dir deine Ruhe? Glaubst du, die Geistlichen in den Kirchen überlassen einer Frau, die so jung und trotz ihrer Brandwunden so hübsch ist wie du, einfach so ein Nachtlager? In was für einer Welt hast du denn gelebt?«
Langsam begriff Hannah, was die Schwarze Liss ihr sagen wollte. Sie stand vor der Schwarzen Liss und blickte an ihr hinunter. Heute Morgen hatte die Bettlerin noch ebenso jung ausgesehen wie sie selbst. Inzwischen hatte sich ihr Aussehen so sehr verwandelt, dass man sie für eine alte Frau hätte halten können. Und da begriff Hannah noch etwas anderes, nämlich, was dies alles bedeutete.
»Ist das der Grund, warum du dich älter machst, als du bist, Liss?«
Die Angesprochene nickte bedächtig. »Unter unseresgleichen gelten andere Regeln. Als Frauen sind wir – wehrlos.« Es war kein Lächeln, das auf ihren Lippen lag, es war ein Blick gepaart mit Schmerz, mit Schicksalsergebenheit, so als müsste man die Welt, in die man mit der Geburt geworfen worden war, so annehmen, wie sie einem entgegenkam.
»Ich bin nicht wehrlos«, sagte Hannah, aber es klang nicht wirklich überzeugt. Dann senkte sie die Stimme. »Ich bin nur allein, seit Jakob und meine Tochter ...« Sie konnte den Satz nicht beenden. Ein heftiges Schluchzen unterbrach sie. Plötzlich fühlte sie, wie sie in eine Leere gespült zu werden drohte, die bodenlos schien. Gera und Jakob, beide waren tot – und sie lebte. Hannah spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie musste sich an der Wand abstützen. Ein Schwall dunkler Gedanken stieg in ihr auf und raubte ihr alle Kraft.
»Komm«, sagte die Schwarze Liss, fasste Hannah am Arm und zog sie mit sich. »Wir brauchen etwas zu essen – und wir brauchen ein paar Münzen bis heute Abend.«
Hannahs Lippen zitterten, doch die Welt ließ ihr keine Wahl. Wer sich der Trübsal überließ, der sank bis auf den Grund des Elends. Und sie hatte ein Ziel vor Augen.
Sie stapften am Dom vorbei und durch das Tor der Domstadt hinunter in die Kaufleutestadt, vorbei am dreigiebeligen Rathaus und dem Brunnen vor dem Weberzunfthaus. Der Geruch nach frischem Brot stieg ihr in die Nase, als sie am Brotmarkt vorüberschlichen. Auf schräg gestellten Karren boten die Bäcker ihre Brote und Semmeln und ihr süßes Gebäck feil. Hannah bemerkte, wie hungrig sie war, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Duft des gebackenen Teigs. Am liebsten wäre sie stehen geblieben und hätte sich wenigstens satt gerochen, doch die Schwarze Liss zog sie weiter.
»Wir müssen einen guten Platz bekommen, Röttel, wenn duetwas zu essen willst«, herrschte sie Hannah an. Sie ging um die Kirche Sankt Moritz herum – und dort lagerten bereits gut vierzig zerlumpte, einbeinige oder einarmige Wesen vor dem Hauptportal. Die Schwarze Liss unterdrückte einen Fluch und stieß Hannah vorwärts. »Lass dich nicht wieder kleinkriegen. Die Röttel hatte einen Platz in der dritten Reihe vor dem Portal. Da gehörst du hin. Diesen Platz hat sie bezahlt – also hol ihn dir.«
»Und wenn sie bemerken, dass ich nicht die Röttel bin?« Verzweiflung lag in Hannahs Stimme.
»Du hast ihre Marke, also bist du die Röttel, egal welches Gesicht du trägst!«, zischte die Liss.
Die Angst schnürte Hannah die Kehle zu. Sie war zwar nicht die Röttel, aber sie musste etwas essen. Was die schiere Not aus den Menschen machte und mit den Menschen machte, hatte sie sich bis dahin kaum vorstellen können. Selbst jetzt beobachtete sie sich, als würde sie eine Fremde begleiten.
Mit den Ellenbogen arbeitete sie sich vorwärts bis zur dritten Reihe. »Ich bin die Röttel«, zischte sie immer wieder, wenn sie sich an irgendwelchen zerlumpten Kerlen vorbeischob oder wenn eine der Frauen sie aus dem Weg stieß.
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