Fuerstin der Bettler
Das Bewusstsein, dass sie hungrig war und essen wollte, hielt sie aufrecht. Sie entwand sich den Griffen, schlug auf die Finger, die an ihr zerrten, und zischte den anderen ihr »Ich bin die Röttel!« scharf in die Ohren.
Als sie schließlich dort kauerte, wo sie nach Meinung der Schwarzen Liss zu sitzen hatte, war sie verschwitzt und erschöpft. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, sich zusammengerollt und ein wenig geschlafen.
Anders als am gestrigen Tag vor der Jakobskirche nahm die Schwarze Liss diesmal neben ihr Platz. Dies geschah so mühelos, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Warum musst du nicht kämpfen?«, flüsterte Hannah ihr zu.
»Weil ich jeden Tag hier sitze ... und ... Ich erkläre es dir später«, flüsterte die Bettlerin zurück.
In diesem Augenblick kamen die ersten Besucher der Frühmesse.
Sankt Moritz war die Kirche der reichen Bürger und Patrizier. Männer in langen schwarzen Roben, die mit Pelz besetzt waren, erschienen. Hannah kannte sie alle. Sie unterhielten sich miteinander und gingen ungerührt durch das Spalier der Bettelnden und um Almosen Flehenden, kümmerten sich nicht um die Hände, die an ihnen zerrten, die nach einer Münze gierten, um die bittenden und fordernden Blicke, um die Zurufe. Als wären die Menschen um sie herum gar nicht da, so bahnten sie sich ihren Weg.
Hannah senkte den Blick und hob die Hand. Als die ersten Kirchgänger durch die Menge geschritten waren und nichts gegeben hatten, wurden die Rufe lauter, verengte sich die Gasse, drängten die Bettelnden nach vorn und forderten ihr Recht. Fast mit Gewalt mussten sich die Gottesdienstbesucher den Weg in die Kirche bahnen.
»Greif ihm in die Tasche!«, schrie die Schwarze Liss ihr zu, als einer der Männer, in dem sie einen der Bitschlin-Sprösslinge erkannte, stolperte und beinahe zu Boden stürzte. Wie von selbst fuhr ihre Hand in die Tasche der mit Pelz verbrämten Schaube, und tatsächlich ertastete sie ein paar Münzen. Ihre Hand schloss sich um die Münzen – doch ehe sie sichs versah, war der junge Fant aufgesprungen und hatte sie kurz mit sich gerissen. Ihr Arm glitt aus dem Wams. Weitere Geldstücke wurden dadurch aus der Tasche geschleudert und klimperten auf den Boden. Das Geräusch löste schrilles Gekreisch aus. Die Bettler und Bettlerinnen warfen sich zu Boden, versuchten mit dem Körper die Münzen zu bedecken, um sie sich zu sichern. Doch mit Fußtritten und Faustschlägen wurden sie zur Seite gerissen und weggestoßen.
Hannah jedoch hielt ihre Faust weiter geschlossen. Fassungslos betrachtete sie diesen Kampf um ein paar Kupfermünzen.
»Was tun sie da?«, flüsterte sie, nachdem sie sich in ihre Reihe zurückgekämpft hatte.
»Sie wollen leben, Kindchen«, sagte die Schwarze Liss neben ihr, die sich ebenfalls auf den Boden geworfen hatte und jetzt mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht auf ihre geschlossenen Finger hinunterblickte. »So eine Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.«
Ein schnalzendes Geräusch ließ Hannah zusammenfahren. Eine weitere Gruppe von fünf Patriziern näherte sich. Doch diesmal wich die Menge vor ihnen zurück. Der Durchgang wurde breiter. Mitten in der Gruppe schritt Hartmut Aigen einher. Sie hatte ihn sofort erkannt, obwohl sich der Laffe wieder neu eingekleidet hatte und so bunt schillerte wie ein Stieglitz. Sogar die Haare hatte er sich getönt und farbige Seidenbänder eingeflochten. Vor ihm her ging ein Lakai, der seinem Herrn mit einer Peitsche den Weg freiprügelte. Kurz bevor er durch das Portal in die Kirche trat, drehte er sich um und warf mit raschen Bewegungen zwei Hände voller Kupfermünzen unter die Wartenden. Das Rudel der Bettler stürzte sich auf das Geld wie ein Schwarm Schmeißfliegen. Hannah beteiligte sich nicht daran, sondern starrte Aigen an, in dessen Gesicht sich Abscheu und Genugtuung paarten. Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke, und Hannah bemerkte, wie eine Falte sich in Aigens Stirn grub. Sofort senkte sie den Blick und tat so, als würde sie ebenfalls auf dem Boden nach Münzen suchen, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Tatsächlich fand sie eines dieser kleinen Geldstücke, das unter den Fuß des Stadtarmen vor ihr gerollt war. Als dieser sich auf die Knie niederließ und dabei die Ferse hob, kam es zum Vorschein, und Hannah griff zu.
Sie konnte noch aus den Augenwinkeln beobachten, wie Aigen den Kopf schüttelte, sich umdrehte und schließlich in der Kirche
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