Fuerstin der Bettler
ansteckenden Krankheiten mussten draußen bleiben. Arme, die den schützenden Raum ihrer Stadt verließen, gingen auch des Vorrechts verlustig, als Stadtarme zu gelten. Am Tor wurde ihnen normalerweise das Bettelzeichen abgenommen. Wenn auch die Kontrollen innerhalb der Mauern nur halbherzig waren, bei Fremden waren sie umso strenger. Hannah konnte sich nicht vorstellen, wie die Schwarze Liss es anstellen wollte, die Toranlage zu überwinden.
Bald konnte Hannah das brackige Wasser des Grabens riechen. Irgendwo vor ihnen musste er beginnen. Er wurde vom Stadtbach gespeist und füllte vor allem die Nordseite des Grabens mit Wasser.
Die Schwarze Liss verlangsamte den Schritt, zog Hannah am Kleid und bedeutete ihr, sich zu ducken. Das letzte Stück führte über eine nicht bewachsene Fläche. Man konnte von da aus, wo sie standen, die braunen Erdstufen erkennen, die bis zur Mauer hinaufführten.
»Dort müssen wir also hoch?«, stellte Hannah fest.
»Allerdings«, sagte die Schwarze Liss. Sie machte jedoch keine Anstalten weiterzugehen. Vielmehr beobachtete sie das Ufer des Stadtgrabens, das mit hohem Schilf bewachsen war. »Da drüben sind sie!«, flüsterte sie endlich und deutete nach schräg rechts hinüber.
Tatsächlich schwankte dort, vielleicht einhundertfünfzig Fuß von ihnen entfernt, das Schilf.
»Sie sitzen in einem Boot«, sagte sie.
»Sie fahren mit dem Boot weiter? Aber auf dem Wasser kann man sie doch genau sehen!«
»Sie werden nachts fahren«, erwiderte die Liss.
»Nachts? Bis wohin?«
Die Liss wiegte den Kopf. »Wer weiß, sie könnten um die halbe Stadt herumfahren.«
»Dann können wir jetzt wohl nicht weiter. Müssen wir warten, bis es dunkel ist? Sie könnten uns ja sehen.«
»Wir gehen trotzdem weiter. Sie werden es gewohnt sein, dass ab und zu Menschen diesen Weg benutzen. Wir dürfen sie nur nicht aufscheuchen. Also los. Aber schau nicht zu ihnen hinüber.«
Hannah hatte kein gutes Gefühl, doch sie ließ sich von Liss mitziehen. Sie gingen durch das Grasland, bis sie zu den Stufen gelangten. Es kam Hannah hier bei Weitem nicht so steil vor wie am Fischertor. Dennoch mussten sie den Hang auf allen vieren hinaufklettern.
Plötzlich öffnete sich in der Mauer über ihnen eine Luke. Wächter sahen von dort herab. Hannah hörte, wie sie lachten und scherzten, konnte aber kein Wort verstehen. Erst als sie ihnen von oben zupfiffen, ahnte sie, worüber sie sich unterhalten hatten: über Weiber. Sie fühlte sich erst wieder besser, als die Luke oben zufiel und sie wieder unbeobachtet waren.
Der Weg entlang der Mauer war schmal, und mehr als einmal wäre sie auf dem Pfad beinahe gestolpert und den Hang hinuntergestürzt. Nur die Geistesgegenwart der Schwarzen Liss rettete sie, denn diese drehte sich bei jedem Aufstöhnen, das Hannah von sich gab, um und packte sie bei der Hand. Endlich erreichten sie das Stephinger Tor.
Acht schwere Ochsenfuhrwerke warteten davor, und die Kutscher und Fuhrwerker harrten darauf, eingelassen zu werden.
Die Schwarze Liss sah stirnrunzelnd auf die lange Kette von Karren. »Zu viele Wagen«, murrte sie. »Das wird dem Helmuth nicht gefallen.«
»Wem? Was soll wem nicht gefallen?« Hannah sah die Liss fragend an.
»Schau einfach zu und lerne!«, sagte die schroff.
Sie kletterte behände über das Geländer, das den Weg zum Tor einfasste, und betrat die Zugbrücke. Hannah folgte ihr.
Vor ihnen gähnte die Tordurchfahrt, die hinter dem Tor steil in die Oberstadt hinaufstieg. Die Schwarze Liss trat unter das Torgatter und schritt einfach geradeaus. Sie war schon fast hindurchgegangen, als ein Wachmann den beiden Frauen entgegentrat.
»Halt. Euer Begehr? Das Brückengeld.«
Die Schwarze Liss ging auf den Wachmann zu. Es war ein schneidiger Bursche von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren. Sie sagte kein Wort, beantwortete die Fragen des Mannes nicht, sondern trat vor ihn hin und sah ihn von unten her an. »Kannst du mir den Helmuth herausholen? Den Kastner Helmuth.«
»Ich ... ich kenne keinen Kastner Helmuth«, sagte der Junge.
»Der Helmuth hat uns herausgelassen. Wir mussten zur Beerdigung unserer Tante, meine Schwester und ich. Das schwöre ich bei Gott. Der Helmuth hat gesagt, wir sollten gegen Mittag wieder hier sein, da würde er seine ... nun, seine Belohnung abholen. Jetzt ist es doch um die Mittagszeit?«
Die Schwarze Liss trat noch einen Schritt näher und stand jetzt so dicht vor ihm, dass der Junge unwillkürlich einen Schritt
Weitere Kostenlose Bücher