Full House: Liebeserklärung an die Chaosfamilie (German Edition)
von zu Hause entfernt nicht lösen kann.
Jetzt gibt es nur eine Möglichkeit: Ich muss schnellstens auf die Autobahn. Alles über 120 km / h produziert bei Clara Schlaf-Endorphine, die sie schockartig in Tiefschlaf fallen lassen. Sieben Minuten später biege ich auf die A7 in Richtung Hannover ein. Gas geben, Blick in den Rückspiegel, Kind schläft. Erleichterung durchströmt meinen Körper.
Leider dauert dieser Zustand nur wenige Sekunden an. Vor mir sehe ich unendlich viele Bremslichter. Klasse, wir fahren direkt in einen Stau, und der reicht, so weit das Auge blickt. Leise schalte ich das Radio ein, und wie bestellt kommt die Durchsage: »Neun Kilometer Stau, Vollsperrung wegen eines Unfalls.« Noch schläft Clara, aber mein Glück hält nicht lange an. Verzweifelt suche ich im Radio einen Sender, der einschläfernde Musik spielt, und lande bei Klassik Radio. Jetzt zeigt sich, dass Clara Wagner hasst, denn nun ist sie hellwach und beginnt zu brüllen. Ich entscheide mich für »nur Brüllen« und schalte Richard Wagner und Radio wieder aus. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mich für Wagner entschieden, aber Clara ist da anderer Meinung. Wer Kinder hat, gibt sämtliche demokratischen Begriffe auf: Meinungsfreiheit, gemeinsame Entscheidungen, und der Unterlegene respektiert die Mehrheit … Vergessen Sie’s. So auch ich.
Nach circa fünfzig Minuten Stillstand, sieben Anrufen von Bea mit der Frage, wo ich denn bleibe und ob ich einen Vogel hätte, mit einem Kleinkind mitten in der Nacht stundenlang durch die Gegend zu gondeln, ist die Autobahn geräumt, und die Fahrt geht langsam weiter. Mittlerweile bin ich wahrscheinlich in einem schlechteren Zustand als meine völlig übermüdete Tochter. Gut, ich gebe zu: Weder sitze ich auf einer übel riechenden Windel, noch habe ich Hunger, aber müde und verzweifelt bin auch ich.
Ich entschließe mich, an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn abzufahren und auf dem kürzesten Weg unser Zuhause anzusteuern. Diese Entschlossenheit hat ihre Wirkung auf Clara nicht verfehlt. Mit einem Lächeln auf ihrem kleinen Gesicht ist sie eingeschlafen. Die Atemluft im Wagen ist inzwischen knapp geworden, um nicht zu sagen, es stinkt bestialisch, aber ich traue mich nicht, das Fenster zu öffnen. Eine Sekunde lang überlege ich, ob Clara vielleicht gar nicht schläft, sondern durch den Gestank ohnmächtig geworden ist. Nein, nicht möglich, sie lächelt und sieht im Rückspiegel aus wie ein Engel.
Nach fünfzehn Minuten haben wir unser Zuhause erreicht oder, besser gesagt, die Auffahrt zu unserer Garage. Nun bloß keine gewagten Fahrmanöver oder Geräusche machen, um Clara nicht zu wecken. Circa fünfzig Meter vor der Garageneinfahrt schalte ich den Motor aus und lasse den Wagen geräuschlos den Weg entlangrollen. Nervös gucke ich nach hinten. Alles okay, sie schläft fest.
Leise steige ich aus dem Wagen. Jetzt auf keinen Fall die Autotür zuschlagen. Ich schwebe förmlich mit meiner glücklich schlummernden Tochter die letzten Stufen zum Haus hinauf, als unser Hund uns fröhlich bellend entgegenstürzt.
Das war’s dann. Clara schlägt die Augen auf, verzieht kurz das Gesicht und fängt an zu weinen. Alles umsonst. Da hätte ich auch gleich zu Hause bleiben können. Beate kommt mir entgegen, und ihr Blick sagt alles, aber offensichtlich hat sie leider auch das Bedürfnis, ihren Gefühlen Worte zu verleihen.
»Klar! Ist ja wieder typisch. Kurvst die halbe Nacht mit dem Kind durch die Gegend und denkst nicht daran, dass Clara ENDLICH schlafen muss! Ich will gar nicht wissen, wo du wieder gewesen bist!«
Als hätte ich mich mit ein paar Kumpeln in der Kneipe getroffen.
Völlig geschafft von der Aufregung der letzten Stunden, fällt mir ein, dass ich den Wagenschlüssel habe stecken lassen. Also wieder die Treppe runter, wer weiß, vielleicht haben sich Clara und Bea in einigen Minuten beruhigt. Unten angekommen, sehe ich gerade noch, wie das Auto unsere Einfahrt passiert – in der falschen Richtung, fahrerlos und rückwärts. Ich habe beim Ausrollenlassen vergessen, den Gang einzulegen oder die Handbremse zu ziehen. Jetztzeigt mir die Familienkutsche, was eine Harke ist. Und dem Nachbarn gegenüber, wo sein Gartenzaun verstärkt werden sollte. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Kiste wieder zu uns rübergebracht und die Handbremse festgezogen habe, kann ich mich nicht mehr entschließen, ins Haus zu gehen. Wahrscheinlich ist Bea gerade dabei, die
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