Fundort Jannowitzbrücke
bereits auf dem Friedhof verschwunden. Wieder mußte er eine Straßenbahn abwarten, bevor er über die Straße gelangen konnte. Und als er endlich den engen Pfad zu den Gräbern hinaufstieg, gab es keine Spur mehr von Barbara Nowack.
Der Straßenverkehr wurde immer leiser. Schließlich schluckte die Ruhe des Friedhofs jedes Geräusch von außen.
Michael irrte ärgerlich umher. Er hätte sich von Wolfgang erklären lassen sollen, wo er Bettinas Grab finden würde. Der Friedhof reichte weit auf den Hügel, und die Sicht wurde überall von dichten Hecken und steinernen Grüften versperrt.
Doch schließlich fand er das Grab. Es lag zwischen den hohen Tannen auf der Kuppe des Hügels. Barbara Nowack hockte vor dem Erdwall, unter dem der Sarg begraben lag. Eine Weile verharrte sie reglos, dann griff sie nach einem der Kränze und zog die Schleife gerade. Es war der Kranz der Burger-Point-Filiale. Er lag seitlich neben dem Grab, großzügig, teuer und prachtvoll. Nicht einmal der Kranz der Familie Nowack hatte da mithalten können.
Als sie sich mit einem Ruck erhob, war es zu spät, um sich hinter einem der Grabmäler zu verstecken. Sie entdeckte ihn sofort und sah ihn überrascht an.
»Die Trauerfeier ist bereits vorbei«, sagte er.
Sie ging nicht darauf ein. »Was wollen Sie hier?«
»Ich habe Sie zufällig kommen sehen«, log er. »Wir waren bei der Zeremonie.«
Sie nickte und sah nochmals zu dem Grab hinüber.
»Wollten Sie nicht dabeisein?«
»Ich habe eine Agentur. Da kann ich nicht jederzeit weggehen, wenn ich Lust dazu habe.«
»Aber Ihre Mutter ...«
»Meine Mutter!« Sie verzog das Gesicht. »Hätte ich ihr die Hand halten sollen?« Es schien, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Doch dann schüttelte sie den Kopf und ging an ihm vorbei.
»Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte sie. »Unsere Familie ist nun wirklich nicht so interessant. Und Sie müssen schließlich einen Mörder suchen.«
Grußlos verschwand sie zwischen den Tannen. Michael sah ihr nach. Er fragte sich, was Barbara Nowack am Grab ihrer Schwester gedacht haben mochte. Ein sonderbares Gefühl ließ ihm bei alldem keine Ruhe.
Ihm blieb keine Zeit. Barbara war gerade hinter einer Hecke verschwunden, da faßte er einen Entschluß. Er folgte ihr.
Niemand schien zu bemerken, daß Wolfgang Herzberger in den Gruppenraum der fünften Etage trat. Die Kommissionsmitglieder saßen beisammen, aßen Schokoriegel und diskutierten lebhaft über das Stagnieren der Ermittlungen.
Er legte seine Unterlagen ab und zog einen Zettel hervor, den die Sekretärin ihm in seiner Abwesenheit hingelegt hatte. Es war eine Telefonnotiz.
Dienstag, 15. März, 15:24 Uhr
Kriminalkommissar Michael Schöne meldet, noch im Einsatz zu sein. Er wird nicht zum Dienstgespräch erscheinen. Bittet um wörtliche Übermittlung folgender Botschaft:
Tut mir leid, Wolfgang, ich werde zur Strafe die nächsten fünf Sitzungsprotokolle schreiben.
Wolfgang knüllte das Papier zusammen und warf es in einem hohen Bogen zum Papierkorb. Es landete auf dem Teppichboden. Einsatz, dachte er verärgert. Michael saß vermutlich auf einer Friedhofsbank, fütterte die Tauben und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Wütend hob er das Papier auf und warf es in den Korb.
Dann überflog er die Tagesordnung. Mit dem Pressespiegel sollte es losgehen. Er hätte den Punkt am liebsten übergangen, die Zeitungen überschlugen sich gerade mit Meldungen über die unzulängliche Polizeiarbeit bei diesem Fall. Die gescheiterte Observation und die Flucht der verdächtigen Person waren wieder einmal sekundenschnell an die Presse gelangt, ohne daß irgend jemand eine Erklärung dafür hatte.
Vielleicht sollte er den Punkt einfach ignorieren, dachte Wolfgang. Er könnte mit der Präsentation neuer Ermittlungsergebnisse oder der aktuellen Fallbeurteilung weitermachen.
Dann kann ich die Besprechung auch gleich auflösen und alle in die Cafeteria schicken, dachte er mutlos. Er hatte im Grunde nichts außer der Idee, die er mit dem Fallanalytiker besprochen hatte, und er war sich nicht sicher, wie das Team darauf reagieren würde. Aber einen Versuch, so glaubte er, war es in jedem Fall wert.
Er stellte sich vor das Flipchart und bat um Aufmerksamkeit. Nur langsam kehrte Ruhe ein. Als er mit der Tagesordnung beginnen wollte, öffnete sich die Tür, und sie wurden erneut gestört.
Frau Schrade, die Sekretärin, kam herein. In geduckter Haltung schlich sie an den Tischen vorbei und reichte Wolfgang
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