Funke, Cornelia
dich doch noch erschieße.«
»Ach ja?«
Valiant warf einen spöttischen Blick auf die Insel, die in der aufziehenden
Dämmerung verschwamm. »Ich bin sicher, dein Name steht eher auf einem Grabstein
als meiner. Gnädigste?«, sagte er und wandte sich zu Clara um. »Ihr solltet mit
mir kommen. Das hier kann nur böse enden. Habt Ihr je von Schneewittchen
gehört, der Menschenfrau, die mit ein paar Zwergenbrüdern gelebt hat, bevor sie
sich mit einem Vorfahren der Kaiserin einließ? Sie ist kreuzunglücklich mit ihm
geworden und ist ihm schließlich davongelaufen. Mit einem Zwerg!«
»Tatsächlich?«
Clara schien nicht wirklich gehört zu haben, was der Zwerg ihr erzählt hatte.
Sie trat
an das Ufer des blütenbedeckten Sees, als hätte sie alles vergessen, selbst
Will, der nur ein paar Schritte entfernt von ihr stand. Zwischen den Weiden
wuchsen Glockenblumen, dunkelblau wie der Abendhimmel, und als Clara eine von
ihnen pflückte, gab die Blüte ein leises Klingen von sich. Es wischte ihr all
die Angst und Traurigkeit vom Gesicht. Valiant ließ ein entnervtes Stöhnen
hören.
»Feenzauber!«,
murmelte er verächtlich. »Ich denke, ich empfehle mich besser.«
»Warte!«,
sagte Jacob. »Es lag immer ein Boot am Ufer. Wo ist es?«
Aber als
er sich umdrehte, war der Zwerg schon zwischen den Bäumen verschwunden - und
Will starrte sein Spiegelbild auf den Wellen an. Jacob warfeinen Stein in das
dunkle Wasser, doch das Abbild seines Bruders war schnell zurück, verzerrt und
nur umso bedrohlicher.
»Ich hätte
dich in der Schlucht fast erschlagen.« Wills Stimme klang inzwischen so rau,
dass sie kaum noch von der eines Goyl zu unterscheiden war. »Sieh mich an!
Egal, was du hier zu finden hoffst, es ist zu spät für mich. Gib es endlich
zu.«
Clara
blickte zu ihnen herüber. Der Feenzauber haftete ihr wie Pollenstaub auf der
Haut. Nur Will schien ihn nicht zu spüren. Wo ist dein Bruder, Jacob? Wo hast du ihn gelassen? Das Rauschen
der Blätter klang wie die Stimme ihrer Mutter.
Will wich
vor Jacob zurück, als hätte er Angst, ihn wieder zu schlagen.
»Lass mich
zu ihnen gehen.«
Hinter den
Bäumen versank die Sonne. Ihr Licht trieb wie schmelzendes Gold auf den Wellen
und die Feenlilien öffneten die Knospen und hießen die Nacht willkommen.
Jacob zog
Will vom Wasser fort.
»Du
wartest hier am Ufer auf mich«, sagte er. »Rühr dich nicht von der Stelle. Ich
bin bald zurück, ich verspreche es.«
Die
Füchsin presste sich gegen seine Beine und blickte mit gesträubtem Fell zu der
Insel hinüber.
»Worauf
wartest du, Fuchs?«, sagte Jacob. »Such das Boot.«
26
DIE ROTE FEE
F uchs fand das Boot. Und diesmal bat sie Jacob nicht, sie
mitzunehmen. Aber als er hineinstieg, biss sie ihn so fest in die Hand, dass
ihm das Blut über die Finger rann.
»Damit du
mich nicht vergisst!«, schnappte sie, und in ihren Augen war die Angst, dass er
auch diesmal, wie vor drei Jahren, verloren gehen würde.
Die Feen
hatten Fuchs fortgescheucht, nachdem sie Jacob halb tot in ihrem Wald gefunden
hatten, und sie war bei dem Versuch, ihm auf die Insel zu folgen, fast ertrunken.
Trotzdem hatte sie auf ihn gewartet, ein ganzes Jahr, während er sie und alles
andere vergessen hatte. Nun saß sie wieder da, das Fell geschwärzt von der
aufziehenden Nacht, selbst als er schon weit auf den See hinausgerudert war.
Auch Clara stand zwischen den Weiden und diesmal blickte sogar Will ihm nach.
Es ist zu spät für mich. Selbst die Wellen, die gegen das
schmale Boot schlugen, schienen es seinem Bruder nachzusprechen. Aber wer
sollte den Fluch der Dunklen Fee besser brechen können als ihre Schwester?
Jacob fasste nach dem Medaillon. Das Blütenblatt darin hatte er an dem Tag
gepflückt, an dem er Miranda verlassen hatte. Es machte ihn für sie so
unsichtbar, als hätte er mit der Liebe auch den Körper abgelegt, der sie
geliebt hatte. Nichts als ein Blütenblatt. Sie selbst hatte ihm verraten, dass
er sich so vor ihr verbergen konnte. Wenn sie liebten, verrieten sie all ihre
Geheimnisse im Schlaf. Man musste nur die richtige Frage stellen.
Zum Glück
machte das Blatt ihn auch für die anderen Feen unsichtbar. Jacob sah vier von ihnen
im Wasser stehen, als er das Boot am Ufer der Insel im Schilf versteckte. Ihr
langes Haar trieb auf den Wellen, als hätte die Nacht selbst es gesponnen, aber
Miranda war nicht bei ihnen. Eine von ihnen blickte in seine Richtung, und
Jacob war dankbar für den Blütenteppich, der seine
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