Funkensommer
aufgelöst. Sie meinte, ihr hättet etwas zu klären. Und ich soll euch dabei helfen herauszufinden, was euch über die Leber gelaufen ist.« Sie lacht.
Wir schweigen.
»Eure Mutter hat erzählt, dass ihr in letzter Zeit häufiger streitet?«, versucht Antonia etwas aus uns herauszukitzeln. »Hat das vielleicht etwas mit deinem Freund zu tun, Hannah?«
Überrascht schaue ich zur Handauflegerin hoch. »Sie wissen davon?«
Antonia nickt. »Deine Mutter hat es mir am Telefon erzählt. Dein Freund ist der Sohn von Raphaels Chef? Ist das richtig?«
Mein Bruder stöhnt. »Sie bringt mich dadurch in eine beschissene Lage. Die glaubt tatsächlich, dass es nichts ändert, wenn sie mit Finn rummacht. Dabei ändert das alles. Heute war er sogar bei uns auf dem Hof und hat mich dumm angeredet! Von wegen, ich solle mich nicht in ihre Sachen einmischen. Scheiße ist das, wenn ich mir deswegen Ärger einfange!«
Antonia nickt. »Und hast du das Hannah gesagt?«
Raphael verzieht das Gesicht und nickt zu mir rüber. »Klar! Aber die hört doch nicht …«
»So ein Blödsinn«, entgegne ich. »Ich habe mich sogar an deinen dämlichen Deal gehalten. Was willst du noch?«
Raphael sieht mich wutentbrannt an. Halt die Klappe, scheinen seine Augen zu blinzeln.
Hastig mache ich den Mund wieder zu, doch Antonia sieht mich fragend an. »Welchen Deal?«, will sie wissen.
Ich zucke mit den Schultern. Mein Bruder ebenso.
Da sagt die Handauflegerin: »Hört mal, ihr zwei! Alles, was hier besprochen wird, verlässt nicht diesen Raum! Auch eure Eltern werden nichts davon erfahren. Es bleibt unter uns.« Sie sieht uns gelassen an. »Dies hier ist eine einmalige Gelegenheit, auf neutralem Boden darüber zu sprechen. Ich bin für euch da. Hier und jetzt. Aber ich werde nicht ewig hier sitzen. Es ist eure Entscheidung. Doch alles, was ihr heute klären könnt, braucht ihr nicht mehr mit nach Hause zu schleppen. Und ihr fühlt euch danach leichter …«
Antonias Worte hallen in meinem Kopf. In meinem Bauch. Und ich spüre, wie sich etwas in mir zu lösen beginnt und raus will. Raus muss. Dass ich endlich wieder leicht sein will. Ich kann den Impuls kaum unterdrücken. Schließlich macht es einen Ruck und ich murmle: »Ich habe meinem Bruder versprechen müssen, mich nicht mehr mit Finn zu treffen. Dafür …«
»Halt die Klappe!«, schreit Raphael jetzt. »Halt endlich deine verdammte Klappe!«
Kurz sehe ich ihn von der Seite an und kann erkennen, dass seine Augenlider zu zucken angefangen haben. Die Adern auf seinem Hals pochen. Ich weiß, er ist wieder einmal kurz vor dem Explodieren. Aber ich kann nicht mehr. Und will auch nicht. Deshalb sage ich leise: »Es tut mir leid, Raphael, aber du kannst von mir nicht verlangen, dass ich ewig den Mund halte. Das ist zu viel!« Ich senke den Blick. »Vor allem aber ist es nicht richtig, deshalb …« Meine Stimme wird zittrig. Hastig nehme ich einen Schluck von dem Wasser, das mir Antonia hingestellt hat, und beginne schließlich zu erzählen.
Ich erzähle davon, wie es war, als Raphael den Anfall hatte. Dass ich mit ansehen musste, wie sich sein Körper verrenkte und sein Mund zu schäumen begann. Wie sich danach alles bei uns zu Hause veränderte. Und wie ich in das Loch gestopft wurde, das sich nach Raphaels Anfall aufgetan hat.
Ich erzähle von Finn, den ich kennenlernte, ohne zu wissen, wer er überhaupt war. Von Raphaels Wutausbrüchen. Seinen Alkoholgelagen. Von Jelly und ihrer Liebe zu Raphael. Ihren Lügen. Und dem Kummer, als ich begriff, dass mich meine beste Freundin die ganze Zeit über belogen hat.
Schließlich erzähle ich von der Droge. Von Treyes, diesem Dreck, diesem Zeug, das Raphael schluckt. Monatelang. Auch davon erzähle ich. Und während ich kaum aufhören kann, endlich alles aus mir herauszulassen, wird Raphael neben mir immer kleiner und kleiner. Und fällt in sich zusammen. Da erst merke ich, dass sich etwas Glitzerndes auf seinen Wangen ausgebreitet hat. Voll Erstaunen stelle ich fest: Mein Bruder weint!
Antonia nickt mir anerkennend zu. »Es ist gut, dass du es ausgesprochen hast«, sagt sie. »Auch für deinen Bruder ist das gut.« Sie steht auf und nimmt neben Raphael Platz. Er hat den Kopf eingezogen und die Tränen tropfen von seiner Nasenspitze.
Antonia greift nach seiner Hand. »Darf ich?«
Raphael schluchzt.
Es tut mir weh, meinen Bruder so zu sehen. Aber vielleicht bringt das ja wirklich etwas …
Die Handauflegerin schließt die Augen. Im Raum wird
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