Funkensommer
vorgeschlagen hast – der ist bescheuert. Du musst das schon alleine auf die Reihe kriegen …«
Raphaels Schultern knicken ein.
»… egal, ob ich mich mit Finn weiterhin treffe oder nicht. Das ist meine Sache. Du aber«, ich sehe ihm dabei fest in die Augen, »solltest dir mal klarmachen, was du überhaupt damit anrichtest, wenn du einen derartigen Dreck schluckst. Und«, hänge ich dran, »du solltest dringend mit Jelly reden. Sie ist total fertig! Alle glauben, dass ich der Grund dafür bin. Dabei bist du es, wegen dem sie sich die Augen ausheult! Und ausgerechnet du traust dich, über Finn zu urteilen? Das ist wirklich erbärmlich!«
Raphael schnappt nach Luft. »Das war nicht so«, stammelt er. »Ich wollte nicht …«, doch weiter kommt er nicht, da Mama wieder einmal mitten ins Geschehen platzt. Aber dieses Mal scheint sie genug kapiert zu haben. Genug, um mit schmalen Lippen zu zischen: »Ich habe soeben mit Antonia Brugger telefoniert!« Ihre Hände zittern. »Du fährst heute mit, Hannah! Auch Antonia hält das für eine gute Idee! Dort könnt ihr klären, was ihr zu klären haben!« Sie sieht uns an. »Und danach will ich hier wieder Ruhe haben, verstanden?!«
Verblüfft sehe ich Mama an. »Ich soll was?!«
Mamas Blick schnellt harsch in meine Richtung. »Du hast schon richtig verstanden, Hannah. Du fährst mit zu Frau Brugger und basta!«
»Aber …«, setzt Raphael an.
Doch Mama lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nichts aber!« Ihre Stimme wird hart. »Du fährst hin und nimmst Hannah mit! Du hast heute ohnehin einen Termin bei ihr. Und wehe, ihr lasst ihn sausen …« Sie zieht scharf die Luft ein, sucht nach Worten, findet keine und lässt stattdessen die Hoftür hinter sich zuknallen.
Eigentlich habe ich mir das anders vorgestellt. Ich habe mir sie anders vorgestellt. Nur wie? Habe ich geglaubt, sie sieht aus wie die Moorhexe? Wie aus meinen Träumen? Mit wehenden Haaren, so rot wie das Feuer? Und einem offenen Mund, so tief und schwarz wie das Loch, in das sie gestoßen wurde? Kann schon sein. Aber Antonia Brugger ist … anders. Ganz anders.
Als wir nach der endlos langen Fahrt schweigsam ankommen, wuselt eine Kinderschar um sie herum.
»Hallo Raphael«, kräht eines der Kinder und winkt mit seiner schokoverschmierten Hand.
Raphael nickt.
Die Frau inmitten der Kinder kommt lächelnd auf uns. Sie schaut ehrlich gesagt ziemlich normal aus. Ihr Lachen ist herzlich. Dabei mustert sie Raphaels Gesicht. Danach auch meines. »Ich finde es schön, dass jetzt auch einmal deine Schwester mitgekommen ist!« Die Handauflegerin schenkt mir einen neugierigen Blick. »Du bist also Hannah!« Sie reicht mir die Hand.
Ich stocke. Nur zögernd strecke ich die Hand aus.
»Und ich bin Antonia Brugger«, sagt sie. »Du kannst aber Antonia zu mir sagen. Kommt mit rein!« Sie schüttelt meine Hand. Dann die von Raphael. Ich atme erleichtert aus und schelte mich selber. Was habe ich geglaubt? Dass die Handauflegerin mit bloßem Händedruck meine Gedanken erraten kann?
Trotzdem bin ich unsicher und folge widerwillig meinem Bruder ins Innere des Hauses. Antonia bugsiert uns in ein Zimmer, das sich als Behandlungsraum entpuppt. Dort lassen wir uns auf dem breiten Sofa nieder. Mein Blick streift umher. Eine große Liege, ein paar Stühle, ein Tisch und unzählige Bücher in Wandregalen neben den Fenstern machen den Raum komplett. Ein Marienbild hängt über der Tür. Daneben irgendwelche Zertifikate von Ausbildungen, die die Handauflegerin anscheinend absolviert hat. Irgendetwas von Energiearbeit steht darauf. Und etwas von Familienaufstellungen. Was die aber zu bedeuten haben, weiß ich nicht. Und schon gar nicht weiß ich, was eine Handauflegerin überhaupt so macht.
Antonia, die eben einen Krug Wasser mit drei Gläsern hereingetragen hat, lächelt mir aufmerksam zu. Ich gaffe wohl eine Spur zu viel auf ihre Hände, denn auf einmal sagt sie: »Du willst wissen, was ich eigentlich so mache, stimmt’s?«
Ich nicke und fühle mich ertappt.
Antonia gießt Wasser in die Gläser und setzt sich uns gegenüber auf einen der Stühle. »Eigentlich mache ich nichts anderes, als mit meinen Händen aufzuspüren, was dem Körper fehlt. Aus diesem Grund ist Raphael auch zu mir gekommen. Damit wir gemeinsam daran arbeiten können, seinen Körper wieder gesund zu machen. Jedoch dieses Mal«, sie sieht uns beide an »werden wir wohl einfach ein bisschen reden. Eure Mutter war am Telefon heute Mittag ziemlich
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