Funkstille
hatten sich im Laufe meiner Gespräche mit seiner Familie angesammelt. Mir ist natürlich bewusst, dass ich auch stellvertretend für die Familie frage, die jahrzehntelang versucht hat, Michael auf »sein Problem« anzusprechen.
Bis zu dem Treffen mit Michael möchte ich aber in einem weiteren Gespräch von Lisa-Maria W. wissen, ob es denn gar keine für ihn vielleicht verletzenden Begebenheiten, Konfliktsituationen oder kleine Streitigkeiten gegeben hatte. Aus den bisherigen Gesprächen geht hervor, dass Michael seine Mutter einmal telefonisch bat, für drei Nächte bei ihr übernachten zu dürfen, weil er sich gerade von seiner Freundin getrennt hatte. Die Mutter hatte aber damals keinen Platz für ihn. Da gab es die Pflegekinder und einen neuen Mann. Sie war nicht für Michael da, als er sie brauchte. Kein Grund, den Kontakt abzubrechen, klar, aber vielleicht war dieses Telefonat nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?
Einige Wochen sind vergangen. Ich rufe Michael noch einmal an, denn der Treffpunkt war bisher nicht genau festgelegt. Er erklärt mir jedoch, dass er es sich anders überlegt habe und nun doch kein Treffen wolle. Das kommt nicht unerwartet, dennoch bin ich enttäuscht. Ich frage Michael, ob er denn zumindest am Telefon erklären könne, warum er den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen habe. Schließlich antwortet er kurz und knapp in einem harten Tonfall: Er habe 18 Jahre in einem Gefängnis gelebt, und seine Mutter habe ihn mit ihrer Dominanz erdrückt. Er sei ausgebrochen und wolle niemals wieder mit der Gefängniswärterin reden. Michael ist rigoros und unversöhnlich. Ja, er will seine Mutter verletzen und bestrafen – sein Ton und die Worte machen das unmissverständlich klar. Seine gekränkte Seele versucht, ihr Leid durch Kränkung des anderen zu lindern, was wiederum neues Leid verursacht. Das scheint ganz in seinem Sinne; immerhin weiß er, dass es seiner Mutter mit seinem Kontaktabbruch nicht gut geht. Er »schießt« zurück, meint diese, und wie im Fall von Jan und seiner Mutter verweist der Sprachgebrauch auf das Schlachtfeld. Lisa-Maria W. gibt zu, dass sie zu streng war, ihrem Sohn zu wenig Liebe gegeben hatte. Sie hatte gefordert, ihm aber kein Selbstbewusstsein vermittelt, ihn materiell gut versorgt, aber emotional verkümmern lassen.
Michael war ihr erstes Kind. »Nun kam mein erster Junge«, beschreibt sie seine Geburt. »Ich habe ihn sehr bewundert, er war hübsch und sehr still. Er brauchte keine Schläge. Als Kind war er nicht so aufgeweckt, musste immer alles zweimal lesen, war sprachlich schwierig dran, unterhielt sich wenig, sprach spät.« In ihrer Beschreibung schwingt mit, dass Lisa-Maria W. Michael nicht allzu viel zugetraut hat. Er war nicht wie sie. Ihre Erziehung war streng und unerbittlich, während sie selbst liberal und eher anthroposophisch erzogen worden war. Sie wollte es unbedingt anders machen. Er brauchte keine Schläge, sagt sie, und merkt noch immer nicht, dass er jeden Blick und jedes Wort als Schlag empfunden haben muss.
Wenn Lisa-Maria W. ihre Erziehungsmethoden beschreibt, hört man so etwas wie Stolz heraus, weniger eine Erkenntnis: »Wenn schlechte Zensuren geschrieben wurden, gab es eben das Heft um die Ohren. Die Kinder mussten exakt schreiben, was ich selbst als Kind nie gemacht hatte. Ich habe meine Kinder genau gegensätzlich erzogen. Ich hatte sehr viel Geld, staffierte die Kinder teuer aus. Ich habe sie nach den damaligen Maßstäben streng erzogen. Sie mussten sehr früh mit Messer und Gabel essen. Meinen eigenen Eltern waren Tischmanieren völlig egal. Ich war antiautoritär erzogen worden – meine eigenen Kinder erzog ich autoritär.« Und wo war der Vater? »Die Erziehung hat er mir überlassen. Bei Christian hat er gesagt, aus dem werde nie was. Michael war immer distanziert, so dass sich mein Mann durch ihn weniger belästigt gefühlt hat als durch Christian. Er war kein Vater, er hat sich immer verdrückt, wollte seine Ruhe haben. Michael und er hatten keine Verbindung zueinander.« Zum Vater gab es überhaupt keine Beziehung, da musste nichts abgebrochen werden. Vater und Sohn haben keinen Kontakt.
Was soll aus Kindern werden, von denen selbst die Eltern nichts halten? Lisa-Maria W. betont, dass Michael sie im Gegensatz zu seinem Bruder nicht gestört habe. Die Rede vom »stören« verstört jedoch mich, die Zuhörerin. Vielleicht, so überlege ich, hat Michael auch erwartet, dass die Mutter die
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