Funkstille
Wedler, und seine Frau Dr. Marianne Wedler, auch Therapeutin, ergänzt: »Ich finde, dieser Abbruch ist schon etwas sehr Gewalttätiges, und das muss es auch sein, weil es im Guten eben nicht ging. Die Funkstille ist die Folge des Scheiterns der Auseinandersetzung. Der Sohn kann sich nicht anders befreien. Und übrigens: Die Mutter hat auch lange davon profitiert«, findet Marianne Wedler, selbst Mutter zweier Söhne. Offenbar hat das Therapeutenpaar Verständnis für Jans brutale Auseinandersetzung mit der Mutter, zumindest für den Abbruch der Beziehung.
Jans Mutter hat nicht verstanden, warum ihr Sohn sie so massiv attackiert. Auch sie ist, wie der Sohn, egozentrisch. Sie empfand die Auseinandersetzung und den Kontaktabbruch als unfassbares Unrecht, hat gewissermaßen reflexartig auf die Verletzung reagiert, ohne weiter über ihre möglichen Ursachen nachzudenken. Für Jan aber ging es ums Überleben: »So ist es im Krieg, sie oder ich.«
»Ich habe 18 Jahre in einem Gefängnis gelebt«
Kontaktabbrüche scheint es am häufigsten zwischen Sohn und Mutter zu geben. Dabei ist es meist der Sohn, der den Kontakt abbricht. In meinen Vorgesprächen mit verzweifelten Müttern blieben immer wieder die Fragen im Raum stehen: Ja, und wo ist der Vater? Welche Rolle spielt er? »Gar keine«, ist meist die Antwort. Die ganze Wut des Sohnes entlädt sich an der Mutter.
Wie kommt es, frage ich mich, dass eine Mutter wie Lisa-Maria W. zu einem ihrer beiden Söhne ein gutes Verhältnis hat, während der andere den Kontakt abbricht? Professor Udo Rauchfleisch wundert das nicht. »Kinder bringen bestimmte Fähigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen mit. Die sind einfach da, es gibt sensiblere und weniger sensible. Die Sensibleren laufen viel mehr Gefahr, sich verletzt und zu kurz gekommen zu fühlen. Da kann man nicht sagen, die Eltern hätten Schuld. Es ist dann eher so, dass sie vielleicht nicht so gut zu diesem sehr sensiblen Kind passen.« Andererseits, ist nicht die Mutter die erste Bezugsperson im Leben eines Menschen? Hans Wedler vertieft noch einmal diese Wechselbeziehung: »Beziehung entsteht und entwickelt sich immer aus Interaktionen. Vorgegebene Mängel auf beiden Seiten in der Mutter-Kind-Beziehung können dazu beitragen, dass emotionale Defizite entstehen. So kann die Mutter psychisch so sehr gestört sein, dass sie nicht hinreichend auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes eingehen kann. Oder das Kind hat einen angeborenen Defekt. Von Schuld kann man da eigentlich nicht sprechen, auch wenn es natürlich ein Versagen ist, auf beiden Seiten.«
Die Experten sind bei dieser Frage besonders engagiert. Ich treffe Professor Martin Teising, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Frankfurt. Er ist der Meinung, dass der Mutter sehr wohl eine spezielle und sehr gewichtige Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung zukommt: »Was macht denn Persönlichkeit aus?«, fragt er mich und antwortet gleich selbst: »Das fängt mit der Mutter an, die das Kind ernährt und ihm Liebe gibt. Das sind Beziehungserfahrungen, verbunden mit basalen, lebenswichtigen Bedürfnissen, wie Nahrungsaufnahme. Wenn sie nichts zu essen bekommen, sterben Kinder. Sie verfallen aber auch körperlich und seelisch, wenn Hygiene und Ernährung stimmen, sie aber keine Zuwendung bekommen. Das hat man erstmals in den 1920er und 1940er Jahren anhand des erschütternden Schicksals von Kindern in Säuglingsheimen beobachtet.«
Natürlich möchte ich unbedingt mit Michael sprechen, Lisa-Maria W.s Sohn. Mehrfach versuche ich, ihn zu erreichen. Er geht wochenlang nicht ans Telefon. Von seinen Geschwistern weiß er, dass zum Thema »Funkstille« ein Film für den NDR realisiert werden soll. Seltsamerweise versucht er nicht, seiner Familie die Unterstützung des Projektes auszureden. Vielleicht, überlege ich, findet er Gefallen daran, Thema zu sein, im Gespräch zu bleiben, unverhältnismäßig intensiv wahrgenommen zu werden. Schließlich erreiche ich Michael. Er ist Ingenieur und beruflich viel unterwegs. Zurzeit ziehe er »mal wieder« um, diesmal von Wien nach Kiel, in seine Heimatstadt, und habe deshalb wenig Zeit, außerdem sei er meist im Ausland und auch deshalb so schwer erreichbar. Wir vereinbaren ein Vorgespräch in Kiel. Michaels Stimme klingt kühl, aber nicht cool. Seltsam unkompliziert verlief das Gespräch. Dass Michael so schnell zu einem persönlichen Treffen bereit sein würde, hätte ich nicht gedacht. Viele Fragen
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