funny girl
Wohnungstür auf, und Azime und Deniz traten ein.
Die Wohnung sah nicht gerade nach einer gramgebeugten Familie aus. Es herrschte keinerlei Unordnung. Kein Chaos. Im Gegenteil, das Maß an Ordnung war gnadenlos. Wie eine Detektivin registrierte Azime das kurze, unbequeme Sofa (ein billiges Modell) mit den Kissen in Reih und Glied, die Bücher im Schrank nach Größe und Farbe sortiert, den Couchtisch mit den Zeitschriften zum Stufenturm geordnet, mit dem kleinsten Notizbuch ganz oben, kein Staubkörnchen, kein Krümel, alles blank poliert, dazu ein Dutzend frischer Chrysanthemen und ein Samowar, dessen Silberbeschläge die gebündelten Sonnenstrahlen auf Wände und Decke lenkten.
Bevor Omo zu Wort kam, wollte Azime etwas sagen. Eigentlich hatte sie nur zuhören wollen, aber jetzt war sie zu wütend dazu. Dieser Raum hatte sie wütend gemacht, denn er schien ihr an sich schon ein Schuldeingeständnis. Der Raum verkündete es deutlicher, als es der Vater selbst hätte sagen können: »Ich war es. Ich habe es getan. Ja, ich habe sie umgebracht.« Der Raum war von einer gefühllosen Aufgeräumtheit, denn wer hatte den Wunsch und brachte den Willen auf zu putzen, wenn seine Tochter zu Tode gekommen war? Azime spürte den Kampfgeist in sich aufsteigen, sie konnte ihn nicht mehr eindämmen, besonders als ihr Blick zum Balkon wanderte, dem Tatort, zu dem sie so oft emporgesehen hatte.
Ein blaues Tuch um Kopf und Nacken geschlungen, trat Omos Frau mit einem Teller voller hauchdünner weißer Plätzchen ins Zimmer. Im Hinausgehen warf sie einen einzigen, flüchtigen Blick auf Azime. »Danke«, sagte Deniz und nahm sich ein Plätzchen.
Omo saß auf der Kante eines Lehnsessels und beugte sich vor, um ihnen Tee einzugießen. »Ihr wollt also hören, was passiert ist? Die ganze Geschichte?«
Azime sah wachsam von der Couch zu ihm hinüber. »Ich kenne die Geschichte. Ich weiß alles. Als Erstes möchte ich Sie etwas fragen.«
»Bitte.«
»Sie wussten das mit Ricardo, nicht wahr? Sie wussten, dass sie mit ihm ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Es steht im Tagebuch.«
»Ja, ich wusste es. Natürlich wusste ich es. Ich bin nicht dumm. Sie hat ihre kostbare Jungfräulichkeit diesem Trottel geschenkt. Sich für einen Nichtsnutz fortgeworfen. Sich ruiniert.«
»Und das konnten Sie nicht ertragen.«
»Nein, das konnte ich nicht ertragen.«
»Und deswegen…«
Sie wartete, dass er die Worte sprach, die ihn verurteilten.
»Ich erzähle euch jetzt, wie es war. Damit ihr es wisst. Du, ihre Freundin. Und du…«, er sah Deniz an, der den Kopf schüttelte und sagte, er habe Omos Tochter nicht gekannt. »Spielt kein Rolle. Damit es wenigstens zwei Menschen gibt, die verstehen, wie sehr ich meine Tochter geliebt habe. Und wenn ihr mir glaubt, dann erzählt es weiter. Das hier ist mein Gerichtsverfahren. Ihr seid meine Richter.«
»Sie haben sie ge liebt ?«, fragte Azime.
»Nein. Vergöttert. Meine einzige Tochter. Das Licht meines Lebens. Und dann hat sie mich enttäuscht. Mich verletzt. Beschämt. Zerstört. Mit diesem Jungen, diesem Italiener, der sich nichts aus ihr macht. Der überhaupt nicht an die Zukunft denkt. Nur an sein Vergnügen. Nur an sich. Ja – für ihn würde ich das Tor zur Hölle aufstoßen. Selbst jetzt noch brennt meine Haut, wenn ich an ihn denke. Meine Leber steht in Flammen. Ja, ich könnte töten. Aber er war es, der sie zerstört hat. Er. Dieser Ricardo.«
Omo hielt kurz zum Atemholen inne und wischte sich die großen feuchten Augen mit einem Taschentuch, das er aus der hinteren Hosentasche holte. »Aber wo erfahren wir Gerechtigkeit? Wir Kurden hier in England, die nur im Gastgewerbe, als Putzkräfte arbeiten, Leute, von denen erwartet wird, dass sie Kebab verkaufen oder in einem Weinladen arbeiten oder, wenn sie Glück haben, jemandem die Haare schneiden? Gerechtigkeit? Seit wann gibt es für einen Friseurgehilfen oder Kebabverkäufer Gerechtigkeit? An wen würdet ihr euch wenden? Ja, ihr. An wen könnt ihr euch wenden, wenn ihr Gerechtigkeit wollt? Wir können sie nur untereinander erfahren, in unserer Gemeinschaft, unseren Bräuchen, unserer Tradition – was haben wir denn sonst hier? Deshalb bist du heute hergekommen, Azime – um mit mir zu reden, respektvoll, als Freundin meiner Tochter. Um Gerechtigkeit zu finden. Nur du – du weißt, dass nur wir beide sie finden können.«
Das stimmte, sagte sie sich. Man konnte sie nur für sich finden, in der Familie, in der Gemeinschaft. Die, die
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