funny girl
der erste Neumond nach dem Ramadan aufgegangen war. Die Übertragung rauschte stark. Aber der Kanonendonner war unüberhörbar. Wumm. Für die Familie Gevaş war das der Startschuss. Mit dem Auto fuhren sie zum Friedhof. Sie neigten, wie stets an diesem Tag des Totengedächtnisses, ihr Haupt vor den Gräbern derer, die sie gekannt hatten, sprachen Gebete, und Aristot las die Sure Ya-Sin aus dem Koran.
Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit machte Azime sich auf die Suche nach dem Grab ihrer toten Freundin. Sie hatte einen kleinen Rosenstrauß auf das Messingschild legen wollen, aber sie fand es bereits ganz mit frischen Rosen bedeckt. Wer brachte ihr Blumen? Hinter ihr sagte eine Stimme: »Danke.«
Der Vater des toten Mädchens. Der Mann, der gelacht hatte. Der Mörder, der verantwortlich dafür war, dass das Mädchen jetzt hier lag. Dieser Mann, der Inbegriff all dessen, was sie fürchtete, streckte ihr die Hand hin.
»Ich heiße Omo«, sagte er.
Entsetzt weigerte sie sich, die Hand zu schütteln. Sie betrachtete diese Menschenhand, die abscheulichste, die sie kannte.
»Und du bist Azime?«
»Ich will nicht mit Ihnen reden.«
»Das will keiner. Aber du warst ihre Freundin. Ich weiß es. Ich habe ein Foto gesehen. Du und noch ein Mädchen mit meiner Tochter. Sie hat gut von dir gesprochen. Ich danke dir dafür, dass du meiner Tochter eine Freundin warst.«
Was hatte er vor? Wollte er seinen Ruf retten? Na, den sollte mal einer vom Balkon schmeißen! Auch wenn der Mann sein Möglichstes tat, bekümmert, bescheiden, gebrochen zu wirken, durchschaute Azime seinen Auftritt sofort. Sie wusste, was er für einer war: einer, der sich reinwaschen wollte, die Tatsachen verdrehen, ein Verbrecher, der keine Reue kannte. Nein, für so einen Mann waren acht Stockwerke zu wenig. Der verdiente es, dass er von den Twin Towers gestürzt würde, damit er im Fallen genug Zeit zum Nachdenken hatte, dass er sich den Erdboden ansah, der ihm da entgegenraste, dass sein Leben vor seinen Augen vorüberflog, damit er vor sich, wenn schon vor keinem anderen, sein Verbrechen hätte eingestehen können, die Verderbtheit seines Wesens. Ein solcher Sturz hätte womöglich sogar ein Wunder bewirken können, nämlich dass er zum Schluss doch noch das ganze Ausmaß seiner Sünden begriffen hätte.
»Hast du ihr Tagebuch bekommen? Ich hatte meinen Sohn gebeten, dich zu suchen und es dir zu geben. Sie hat von dir darin geschrieben. Da fand ich, du solltest es bekommen. So liebe Dinge hat sie über dich gesagt.«
Noch weitere Tricks? Was wollte er tatsächlich von ihr? Was führte dieser widerliche Mann im Schilde?
»Auch damit du vielleicht verstehen kannst, was mit ihr passiert ist. Hast du es gelesen? Ihr Tagebuch? Dann musst du jetzt wissen, warum sie so unglücklich war. Es war… ein schreckliches Missverständnis. Ja, ein schreckliches, schreckliches Missverständnis. Aber es wird seine Zeit dauern, bis du das alles verstehst.«
Ihre Familie war ganz in der Nähe, falls sie Beistand brauchte. Sie sah Omo ins Gesicht – breit, durchaus gut aussehend, volle Lippen, die Augenbrauen bittend über der kleinen spitzen Nase erhoben – und sie sagte noch einmal das tödliche Wort, das er sich beim Begräbnis seiner Tochter nicht hatte sagen lassen.
»Mörder.«
Er reagierte sofort. Seine Augen huschten nach links und nach rechts, als fürchtete er, jemand könne das Wort gehört haben. Und dann griff er in seine Jacke, holte eine Brieftasche heraus und aus dieser eine Karte. »Hier. Bitte. Meine Karte. Bitte, nimm sie, weil heute das Fest ist. Was kann es dir schaden, wenn du sie nimmst? Und wenn du jemals die ganze Wahrheit erfahren willst, die Wahrheit darüber, was mit ihr passiert ist – und ich schwöre dir, es ist die Wahrheit –, dann komm mich besuchen. Ich erzähle dir alles, ich verspreche es. Du kannst allein kommen oder in Begleitung. Ein glückliches Fest. Auch deiner Familie. Ich nehme an den Feierlichkeiten nicht teil. Alle hassen mich. Sie verstehen es nicht. Keiner versteht es. Aber dir möchte ich es erklären. Ihrer Freundin. Auf Wiedersehen, Azime. Salam.«
Und mit diesen Worten drehte er sich um, suchte sich einen Weg zwischen den Familien hindurch, die überall den Festtag damit begannen, dass sie denen, die nicht mehr unter ihnen waren, Ehre erwiesen; einen Weg, auf dem er niemandem begegnete, so dass er keinen grüßen musste und von keinem gegrüßt wurde.
Azime kickte, noch ganz benommen, mit dem Fuß
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