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Furchtbar lieb

Furchtbar lieb

Titel: Furchtbar lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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geworden war. Zuletzt war sie in der Glasgower Serie »Der See« zu sehen gewesen, in einem drei Folgen umfassenden Handlungsstrang über eine lange verloren geglaubte Mutter. Aber bekannt geworden war sie vor allem durch ihre Rolle in einem Intrigendrama der achtziger Jahre namens »Ein Leben für Rizzo«. Vivienne Morgan war Sex am Stiel. Dieser Tage glich der »Stiel« mehr einem großen, wodkagefüllten Rumpf, und der »Sex« bestand aus zwei runden Silikonbällen, die unter einem implantierten, aufgespritzten Gesicht thronten.
    Sarah hatte von ihrer Mutter einigePersönlichkeitsmerkmale geerbt, darunter die Auffassung, dass alles im Leben irgendwie »repariert« werden könne. Beispielsweise hatte Sarahs Mutter mit ihrer Tochter niemals über Menstruation und Sex gesprochen. Stattdessen hatte sie Sarah, nachdem sie den Fleck auf der Rückseite ihrer Schuluniform entdeckt hatte, zum Apotheker geschickt – allein.
    Krissies Mutter hingegen war eine dreiundsechzig Jahre alte Bergsteigerin mit rosigen Wangen, strahlendem Lächeln, einer gut ausgewählten Garderobe und einer handfesten, praktischen Einstellung zum Leben. Sie glaubte, dass man über alles sprechen könne.
    Wie hatte Kyle nur so blind sein können? Warum hatte er sich in eine Frau verliebt, der es vorbestimmt war, so unglücklich wie ihre Mutter zu werden?
    Zu den anderen Dingen, die Kyle bereute, gehörte der Kauf des Hauses am Loch Katrine, an dem er, wenn es nach Sarah gegangen wäre, ununterbrochen hätte arbeiten müssen. Er bereute es, in die Fußstapfen seines Vaters getreten zu sein und Medizin studiert zu haben, denn er schuftete nicht gern, und ein Arzt muss schuften. Selbst ein Allgemeinmediziner in einer Gemeinschaftspraxis konnte nicht schwänzen, und so wurde er dauernd von Gefühlen der Schuld und der Selbstverachtung heimgesucht, weil er keinen Ehrgeiz hatte, zu forschen oder Fachartikel zu schreiben oder seine Karriere sonstwie voranzutreiben. Er wollte das Gegenteil. Er wollte mit Freunden Ski fahren gehen. Aber er konnte es nie tun. Ärzte können nicht einfach gehen.
    Und nachdem Sarah sich entschieden hatte, zwei volle Wochen lang nicht mit Kyle zu sprechen, in denen sie sich weigerte, ihm sowohl das Salz zu reichen als auch den Anruf eines geschwächten Patienten auszurichten, den er sofort hätte aufsuchen müssen, da bereute er, ihr gesagt zu haben, dass ihre Shorts zu eng seien.
    ***
    Nachdem Kyle gegangen war, um seine Zeitung aus der Recyclingtonne zu fischen, packte Sarah ihre perfekte Campingkleidung in ihren perfekten Rucksack und lächelte. Alles war genau so, wie es sein sollte.
    Die Therapie hatte ihr geholfen, zuzugeben, dass sie kontrollsüchtig war, und dass ihr aggressiver Perfektionismus eine Reaktion auf jene Erwachsenen darstellte, deren Verhalten ihr gegenüber alles andere als perfekt gewesen war – ihre Mutter, ihren Vater und ihren Stiefvater, Mike Tetherton. Was die Therapie nicht geklärt hatte, war dies: Was war falsch daran, kontrollsüchtig zu sein? Was war falsch daran, dass man die Dinge in Ordnung hielt? Wenn die Dinge in Ordnung waren und wenn alles dem Plan entsprechend verlief, dann konnte es sein, dass Sarah dort erfolgreich war, wo ihre Mutter versagt hatte. Dann konnte sie es schaffen, ihren Mann zu behalten und eine glückliche Familie aufzubauen.

[Menü]
    Kapitel zehn
    Mike Tetherton hatte früher schon einmal zu fliehen versucht. Er hatte Vivienne, seine Frau, und Sarah, seine Stieftochter, verlassen und war in einen Zug gestiegen.
    Jetzt, da er in kleinen Schlucken seine heiße Schokolade trank und die Thermoskanne vorsichtig auf den Rasen legte, fühlte er sich genauso, wie er sich gefühlt hatte, als der Zwei-Uhr-vierzig-Zug vor siebenundzwanzig Jahren Glasgow verlassen hatte. Er war freudig erregt, aber auch nervös, als er die Landschaft von South Ayrshire um sich betrachtete – die sanft gewellten Hügel, die sich bis zur Küste erstreckten. Er drehte seinen Liegestuhl zur Sonne und ließ sich darauf nieder. Der Liegestuhl stand genau in der Mitte eines umzäunten Grundstückes, das sich am Ende der Welt befand. Das war Mikes Traum: ganz und gar allein zu sein, herrlich allein zu sein, weit weg von der schwatzhaften Pendlerstadt, in der er jahrelang gelebt hatte, weit weg von der unbarmherzigen Welt des Films. Weit weg von der Versuchung.
    Man sah Mike Tetherton seine neunundfünfzig Jahre nicht an; er hätte auch als fünfundvierzig durchgehen können. Seine Gesichtszüge waren

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