Furchtbar lieb
Einmal hatten sie freitags um fünf Uhr beschlossen, am Wochenende zelten zu gehen, und schon um halb sechs waren sie unterwegs gewesen. Er hatte eine Regenjacke und Streichhölzer eingepackt, Chas hatte eine Viertelunze holländisches Dope eingepackt, Krissie hatte außer Schokolade so gut wie gar nichts eingepackt. Der Unterschied zu jetzt hätte kaum größer sein können.
Als Sarahs Modenschau vorüber war, schwitzte Kyle fast vor Erleichterung. Er hatte nur die richtigen Sachen gesagt, und jetzt durfte er gehen und seine Zeitung lesen (die in der Recyclingtonne lag). Nicht immer war ihm so viel Glück beschieden. Einmal, nach einem harten Arbeitstag, als er nicht mehr ganz klar im Kopf gewesen war, hatte er Sarah die Wahrheit über eine ihrer Shorts gesagt. »Vielleicht ist sie beim Waschen eingelaufen«, hatte er gesagt, kurz bevor er selbst zu einem winzigen, reumütigen Knäuel eingelaufen war.
Kyle hatte sich in diesem Stadium längst daran gewöhnt, reumütig zu sein.
Er bereute, dass Sarah kein Erfolg bei ihrem verzweifeltenVersuch beschieden war, sich ein anderes Leben als jenes aufzubauen, das ihre Mutter für sie zusammengepfuscht hatte. Sie hatte sich das alles so schön ausgedacht – das sichere Heim, das Ferienhaus, die Babys, die fleißigen, in Treue verbundenen Eltern, die immer da sein würden. Doch als die Zeit voranschritt, wurde Kyle klar, dass er Zeuge eines verlorenen Kampfes war. Sarah fehlten der nötige Schneid, die geeigneten Vorbilder oder ausreichendes Selbstvertrauen, um sich ein anderes Leben aufzubauen. Sie versuchte, eine Gehirnoperation mit einem Löffel auszuführen.
Kyle hatte ein ödes Leben geführt, ehe er Sarah kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Sie war die schönste Frau gewesen, die er jemals gesehen hatte, und während der nächsten neun Monate hatte er nichts anderes getan, als sie anzuschauen. Er hatte sie betrachtet, während sie schlief, er hatte ihren Blick über Restauranttische hinweg gesucht, und er hatte sie in Geschäften angelächelt, während er stolzgeschwellt die Bewunderung des Ladeninhabers registrierte.
Aber diese Verliebtheit war längst abgestorben.
Damals in ihrer Studentenzeit, als Chas die Wahrheit über das Wesen der Schönheit zum Besten gegeben hatte, da hatte er gesagt: »Manche Menschen werden um so hässlicher, je länger man sie anschaut, während andere immer schöner werden.« Kyle wusste jetzt, dass das stimmte. Sarahs perfektes symmetrisches Gesicht war mit den Jahren immer uninteressanter geworden. Sie hatte schon immer etwas zu viel Fleisch um die Mundwinkel gehabt, und mit den Jahren und ein paar Kilo extra war dieser Zug immer deutlicher hervorgetreten. Jetzt, mit dreiunddreißig, wirkte sie aufgedunsen. Aber das war nicht alles – es lag nichts Bemerkenswertes in ihren Augen, nichts Funkelndes in ihrem Lächeln, nichts, was er gern für längere Zeit angeschaut hätte.
Krissie hingegen hatte vieles, das er gern angeschaut hätte. Als er damals mit Chas auf dem Wohnzimmersofa gesessen hatte und Krissie Bauchübungen auf dem Boden machte, da hatte Chas gesagt: »Als ich zum Beispiel Krissie das erste Mal begegnet bin, da dachte ich, sie sei eine Vogelscheuche.«
Krissie verpasste ihm eine, hielt ihn auf dem Boden fest und fing an, ihn zu kitzeln.
Zwischen wonnigen Kitzelquietschern fuhr Chas fort: »Aber jetzt finde ich, dass du die schönste Frau in Glasgow bist.«
»Wo?«
»Schottland.«
»Wo?«
»Ja, na gut, im Universum! Hör auf!«
Da hatte Krissie Kyle angesehen und eine fragende Augenbraue gehoben.
»Ich finde immer noch, dass du eine Vogelscheuche bist«, hatte Kyle im Spaß gesagt.
In Wahrheit hatte er Krissie nicht für eine Vogelscheuche gehalten. Und jetzt hielt er sie für das Gegenteil einer Vogelscheuche. Während der letzten zehn Jahre hatte sich ihr Knabenkörper in ein schlankes Exemplar perfekter Weiblichkeit verwandelt – solange sie sich im »Betriebsmodus« befand. Im »Ausgehmodus« hätte man sie über die Laufstege von Paris schicken können. Ihre Gesichtszüge hatten eine Metamorphose zu faszinierender Eleganz durchgemacht. Sie schien ihre Outfits binnen Sekunden zusammenzuwerfen, und das Ergebnis war zugleich sexy und leger.
Chas hatte auch gesagt, dass Frauen sich immer, ohne Ausnahme, in ihre Mütter verwandelten. Und das hatte sich als wahr erwiesen. Sarah hatte sich in Vivienne Morgan verwandelt, die Bühnenschauspielerin, die zu einem Star der Seifenoper
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