Furchtbar lieb
steinige Pfade erklomm, zählte sie bis zehn, nahm einen tiefen Atemzug und ging weiter.
Einige Techniken, die sie in der Therapie gelernt hatte, erwiesen sich jetzt als nützlich. Sie konnte innerlich Abstand nehmen und mit der Situation klarkommen. Aber wenn man dauernd innerlich Abstand nehmen muss, weil man seine Füße zu Fetzen gelaufen hat und der eigene Ehemann einen – am Hochzeitstag! – mit der besten Freundin im Stich lässt, dann fängt man an, mit zusammengebissenen Zähnen bis zehn zu zählen, und man fängt an, schnell und tief durch die Nase zu atmen. Und schließlich fängt man an zu schluchzen und einen Sprechgesang anzustimmen, der ungefähr wie folgt geht: »Dieses verdammte Arschloch! Diese verdammten Arschlöcher. Arschlöcher!«
Immer schlossen sie Sarah aus, wenn sie zusammen waren.Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, sie hatten während ihres Studiums zusammengewohnt. Selbst jetzt schienen sie ein intuitives Verständnis füreinander zu haben und Sachen zu wissen, von denen Sarah nichts wusste und auf die sie liebend gern anspielten. Kyle hatte Dope mit Chas geraucht. Sie hatten gemeinsam »zwei Munros in der Tasche« (d. h. sie hatten grundlos zwei hohe Berge bestiegen). Sie hatten an der Uni eine Freundin namens Bridget gehabt. Sie mochten Pasta mit scharfen Würstchen.
Es überraschte und ärgerte sie, wenn sie dieselben Zeitungsartikel über die jüngste Schlacht um die Oppositionsführung gelesen hatten oder über einen bestimmten neuen Autorenfilmer, und endlos über solche Themen redeten.
All das war Sarah durch den Kopf gegangen, als sie ihren Rucksack vor dem Pub abnahm.
»Überraschung!«, schrien Krissie und Kyle aus einem Fenster im ersten Stock.
Aber sie hatte mehrere Stunden lang Schlechtes über die beiden gedacht, und es war gar nicht so leicht, sich zu freuen, als sie ihr das urige Zimmer zeigten, ein Glas Champagner einschenkten und sie drängten, in eine Wanne voller Badesalz und Schaumblasen zu steigen. Sie brauchte mehrere Minuten bei gedämpftem Licht in der Wanne, ehe sie aufhörte, die beiden über alles zu hassen, und allmählich begann, sie wieder zu mögen. Ihren Ehemann seit acht Jahren und ihre Freundin seit Ewigkeiten.
Als Sarah zum Abendessen hinunterging, war sie bereit für ein fantastisches Mahl und einen unterhaltsamen Abend.
Aber nach dem Garnelencocktail, den es als Vorspeise gab, und einem Glas australischen Cabernet Sauvignons kamen ihre Hassgefühle wieder hoch. Würden sie jemals aufhören, über die Uni zu sprechen? Was war so interessant an diesem Chas mit seinen schmierigen Haaren und großen Pupillen?
Ehe sie es recht bemerkte, hatte sie ihren Nachtisch verspeist und sagte: »Das war großartig, vielen Dank, aber ich bin erschöpft. Ich haue mich dann mal hin.«
Kyle reagierte angemessen, das musste sie ihm lassen: Mindestens dreimal bot er ihr an, mitzukommen. Aber sie lehnte ab … »Nein, nein, ihr bleibt hier. Ich sehe euch dann morgen.«
Während der nächsten Stunden lag sie kochend vor Wut im Bett. Wie hatte Kyle sie nur an ihrem Hochzeitstag allein ins Bett gehen lassen können? Es ist Pflicht, am Hochzeitstag miteinander zu schlafen; unter keinen Umständen sollte man das ignorieren.
Schließlich zog sie sich wütend an und ging nach unten. Zu ihrer Überraschung war niemand in der Gaststube, und auch die Bar war leer. Alles war totenstill.
Sie schaute aus dem Fenster in den Garten – nichts als Dunkelheit.
Dann tauchte wie aus dem Nichts das Gesicht von Matt hinter der Scheibe auf. Sarah fuhr zurück und sah, wie Matt sich umdrehte und auf sein Zelt zusteuerte.
Ihr Herzschlag normalisierte sich schließlich wieder, und sie wandte sich der nun anstehenden Aufgabe zu. Wo konnten sie hingegangen sein?
Aber in Wahrheit wusste sie es. Es war offensichtlich, wo sie waren.
Sarah ging mit angehaltenem Atem die Treppe hoch. Es schienen Stunden vergangen zu sein, ehe sie endlich im ersten Stock angekommen war. Sie schluckte, als sie den Gang hinab zu Krissies Zimmer schlich.
Sie blieb stehen und drückte langsam die Türklinke nach unten.
Öffnete langsam die Tür.
Ging langsam auf das Bett zu.
Machte blitzschnell das Licht an.
Aber niemand war da. Komisch, sie fühlte sich beinahe enttäuscht. Vier Stunden lang hatte Sarah sich ausgemalt, wie sie die beiden in flagranti erwischen würde. Sie hatte geplant, selbstgerecht zur Tür hinauszustolzieren. Sie hatte sich lebhaft vorgestellt, wie sie ihr Haus verkaufen und
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