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Furchtbar lieb

Furchtbar lieb

Titel: Furchtbar lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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genauso wie Trauer an: stark, lähmend, verzehrend. Warum fühlte sich Liebe genauso wie Trauer an? Auf einmal konnte ich nicht mehr essen. Mir war, als ob ich kaum noch atmen könne.
    Jene Nacht mit Kyle fühlte sich an, als wäre sie die wundervollste Nacht meines Lebens. Ich sah ihm so lange und direkt in die Augen, dass es unter normalen Umständen völlig inakzeptabel gewesen wäre. Mir fiel auf, dass ihm meine nackten Arme auffielen, und dass er mochte, was er da sah. Ich spürte, dass sein Körper mich wie eine Heizung wärmte, obwohl er fast einen Meter entfernt saß. Ich wusste, dass er gern näher gekommen wäre. Ich berührte versehentlich seine Hand, als ich ihm ein Glas Wein reichte, und seine Hand hielt sich danach mehrmals in der Nähe meiner Hand auf.
    Kyle und ich tranken bis in die frühen Morgenstunden, stellten die unglaubliche Menge von Krimskrams im Speisesaal um, sammelten berauschende Pilze und forderten uns dann gegenseitig heraus, in den Wald zu gehen und fünf Minuten lang still im Dunkeln zu stehen. Ich schaffte eine Minute. Kyle schaffte sechs Minuten. Ich hielt ihn schon für tot und ging gerade auf die schwarzen Bäume zu, um ihn zu finden.
    Ich hörte ein Geräusch, das meinen postschwangerschaftlichen Beckenbodenmuskel herausforderte, drehte mich um und sah in einiger Entfernung Matt, der durch ein Fenster insHotel spähte und dann in Richtung Wiese ging. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, aber Kyle überraschte mich mit einem »Buh« von hinten, was Matt dazu brachte, sich umzudrehen.
    Ich sah Matt volle vier Sekunden lang an – das klingt nicht nach viel, aber wenn man jemanden ansieht, der einen vielleicht vergewaltigen will, ist es (Katz Maus) … eine (Katz Maus) … lange (Katz Maus) … Zeit (Katz Maus).
    Ich griff nach Kyles Hand, und wir rannten zurück ins Hotel. Wir schlugen die Tür hinter uns zu und schlossen sie mit betrunkener Gewissenhaftigkeit ab. Als wir uns umdrehten, stand Sarah da und jagte uns fast so viel Angst ein wie Matt. Sie wirkte verrückt, und wie sich herausstellte, war sie es auch. Sie war sogar so verrückt, das wir ewig brauchten, all die berauschenden Pilze einzusammeln, die sie zu Boden geschleudert hatte, ehe sie sich auf dem Absatz umdrehte und davongestapft war.
    Wenn Kyle ihr nach oben folgt, sagte ich mir im Stillen, dann habe ich mir alles nur eingebildet. Wenn er bleibt, tja, dann stecke ich in Schwierigkeiten. Dann stecken wir alle in Schwierigkeiten.
    Eine Pause.
    »Es ist noch was von dem Portwein übrig«, sagte Kyle.
    Na bitte, wir steckten in Schwierigkeiten.
    Wir setzten uns gemeinsam an die Bar und unterhielten uns.
    Themen, die wir abhandelten: Lieblingssongs; was wir studieren würden, wenn wir noch einmal Zeit dazu hätten; wie ich mich seit der Geburt des Kleinen fühlte; wie Kyle mit dem Druck im Job und in seiner Ehe zurechtkam.
    Wie konnte es sein, dass ich mich plötzlich in einen Typen verliebte, den ich seit Jahren kannte? Wie konnte es sein, dass mir nicht aufgefallen war, wie wohl ich mich in seiner Gegenwart fühlte? Ich wusste bloß, dass er mich mochte und dass er meine Gesellschaft genoss.
    Ich hatte gerade angefangen, ein bisschen nüchtern zu werden, als unser Gespräch sich (gefährlicherweise) der Fragezuwandte, welche ungewöhnlichen sexuellen Erfahrungen wir gemacht hatten. Wie sich herausstellte, hatte Kyle ein ziemlich begrenztes Repertoire, und so schickte ich ihn ins Bett, damit er etwas Neues ausprobierte. Dann saß ich allein da und bereute es.
    ***
    Am nächsten Morgen war ich als Erste auf, nach zwei Stunden kopfschmerzgeplagten Schlafes. Matts Zelt war, genau wie beim letzten Mal, von der Wiese verschwunden. Ich setzte mich hin und frühstückte allein. Jedes Mal wenn ich ein Geräusch hörte, das von Kyle stammen konnte – Schritte, eine sich öffnende Tür, Stimmen – schreckte ich hoch.
    Als ich meinen dritten Kaffee trank, erschien er endlich. Wie seltsam. Am Tag zuvor war ich mir der Haare auf meinen Armen nicht bewusst gewesen. Ich hatte gewusst, wie man aß und wie man zwei oder mehr Wörter in eine Reihenfolge bringt, die einen Sinn ergibt. Was war mit mir geschehen? Die Haare auf meinen Armen standen senkrecht. Meine Haut wurde von einem fieberartigen Kribbeln heimgesucht. Ich konnte nicht weiter als bis zu den Mandeln einatmen. Und ich war in den Sprachzustand eines Kleinkindes regrediert.
    Allerdings muss ich es doch geschafft haben, etwas zu sagen, während wir unseren Kaffee tranken.

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