Furchtbar lieb
Ich erinnere mich nämlich, dass ich mir wünschte, Sarah hätte unsere Unterhaltung nicht unterbrochen. Sie setzte sich zu uns, um ihr üppiges Frühstück mit Eiern und Speck zu essen, und entschuldigte sich für den vergangenen Abend. Es tue ihr leid. Sie sei einfach müde gewesen. Heute werde sie sich wirklich Mühe geben. Sie sei entschlossen, mit uns Schritt zu halten. Ihre Füße seien ordentlich verbunden und fühlten sich ganz passabel an.
Wir machten uns auf den Weg nach Bridge of Orchy, ließen Loch Lomond hinter uns und wagten uns ins Ödland vor. Sarah beschwerte sich kein einziges Mal, aber sie blieb ein wenigzurück, und als sie uns bei unserer ersten Rast einholte, ging sie barfuß.
»Mein Gott, Sarah, was ist passiert?«, fragte ich, als sie sich neben mich setzte. Ihre Füße bluteten, und dort, wo ihre Blasen aufgeplatzt waren, hing die Haut in Fetzen herab.
»Ich denke, es liegt an den neuen Wanderschuhen«, sagte sie. »Macht es euch etwas aus, wenn ich bis zum Zeltplatz per Anhalter fahre?«
Wir protestierten. Wie wär’s, wenn wir alle per Anhalter fahren? Wir könnten sie doch nicht allein gehen lassen.
Aber sie bestand darauf, und für sie schien es in Ordnung zu sein. Sie versprach, uns am Zeltplatz mit einem prasselnden Lagerfeuer zu empfangen.
Also gingen wir an einem riesigen, alten, verlassenen Steinbruch vorbei und warteten mit ihr an einer kleinen Straße mitten im Nirgendwo, bis ein Auto vorbeikam – ein Sainsbury-Lieferwagen, um genau zu sein. Ehe sie einstieg, fragte ich den Fahrer, ob er ein Axtmörder sei. Er schüttelte den Kopf: »Ich ziehe die Schrotflinte vor.« Sarah hüpfte auf den Sitz neben ihm und lächelte.
Als der Lieferwagen in der Ferne verschwand, überkam mich eine Anwandlung von Panik. Nun war meilenweit niemand außer uns beiden da.
Wahrscheinlich habe ich mich einige Sekunden lang nicht von der Stelle gerührt. Ich hatte zu viel Angst. Wenn ich Kyle ansähe, dann wär’s das gewesen.
Also entwickelte ich statt dessen Plan A, bei dem es darum ging, schnell und gesenkten Blickes weiterzulaufen und ununterbrochen über sichere, unverfängliche Themen zu sprechen.
»Findest du nicht auch unglaublich, was aus Chas geworden ist?«, fragte ich fast joggend, die Augen fest auf den Boden gerichtet.
»Weißt du noch, wie er die Ameisen unter der Spüle gefüttert hat? Mit Karamellkeksen, der noble Hund. Die bestgenährten Ameisen von Glasgow!«
»Er ist der netteste Mann, den ich je kennengelernt habe«, sagte ich.
»Netter als ich?«, fragte Kyle und sah mir in die Augen.
Scheiße. Wie ging Plan B? Ich hatte keinen.
Scheiße.
»Natürlich«, sagte ich. »Du bist eine echte Nervensäge.«
[Menü]
Kapitel achtzehn
Ziemlich genau zu der Zeit, als Krissie und Kyle Sarah zum Abschied zuwinkten, saß ihr alter Freund Chas auf der oberen Pritsche seiner Zelle, eine volle Supermarkttüte in der Hand, und wartete.
Um ein Uhr dreißig, pünktlich zum Ende von »Neighbours«, klopfte es an der Tür. Obwohl er den ganzen Tag auf das Klopfen gewartet hatte – jeden Tag seiner Haftstrafe, um genau zu sein –, war er jetzt, als es so weit war, zu Tode erschrocken.
Vier Jahre hatte er in dieser Zelle in Halle B zugebracht. Achtundvierzig Monate. Zweihundertacht Wochen. Eintausendvierhunderteinundsechzig Tage. Sein Verbrechen hatte darin bestanden, mit einer Metallstange, die er aus einem Einkaufswagen gelöst hatte, auf einen Mann loszugehen. Sein Motiv war während des Prozesses nicht klargeworden.
Als Chas im Old Bailey verurteilt worden war, hatte der Richter ihm in die Augen gesehen und ihn gefragt, ob er für das, was er getan hatte, Reue empfinde.
Chas hatte dem Blick des Richters standgehalten und »Nein« geantwortet.
Wenn der Richter Chas jetzt in die Augen gesehen und ihn gefragt hätte, ob es ihm leidtue, dass er wegen seiner Tat eintausendvierhunderteinundsechzig Tage in diesem Loch verbracht hatte, hätte Chas wiederum seinen Blick erwidert und genau dieselbe Antwort geben. Er hätte »Nein« gesagt. Er fühlte keine Reue. Nicht die geringste.
Chas musste jetzt an die Furcht denken, die er empfunden hatte, als er sein Urteil zum ersten Mal hörte. Er hatte sich besorgt gefragt, in welches Gefängnis man ihn schicken werde.Es war fast eine Erleichterung gewesen, nach Sandhill zu kommen, auch wenn er von den rauen Sitten in Sandhill gehört hatte und sich zu Tode fürchtete, als man ihn in einem weißen Transporter Richtung Norden brachte. Ein
Weitere Kostenlose Bücher