Furchtbar lieb
Uniformierter hatte ihm Handschellen angelegt und ihn durch eine Metalltür in die Aufnahme gebracht, wo er abgefertigt worden war.
Er hatte ziemlich schnell kapiert, dass er in keine der Häftlingsgruppen von Sandhill passen würde. Da waren die Heulsusen, die schockiert waren, sich dort wiederzufinden, wo sie waren. Sie hatten ihre Häuser oder Arbeitsstellen oder Ehefrauen verloren, weil sie dort waren, wo sie waren, und sie schluchzten wochenlang hemmungslos. Dann gab es die »Hallo-mein-Großer«-Typen, die eintrafen wie bei einem Klassentreffen und mit ihren alten Kumpels plauderten, als wäre dies ein vertrauter Ort, an dem sie sich fast sicher fühlten.
Chas bildete seine eigene, dritte Kategorie. Keine Narben aus der Erziehungsanstalt im Gesicht, kein Funkeln in den Augen, keine Drogen, die er kaufen oder verkaufen wollte, kein Verlust der Familie oder des Arbeitsplatzes. Er war ein verträumter Typ aus der Mittelklasse. Ein bisschen hager, aber ansonsten gut aussehend, gut angezogen und überaus wortgewandt. Chas wurde schlagartig klar, dass er sich im Hintergrund halten und so unauffällig wie möglich bleiben musste. Also hielt er den Kopf gesenkt, malte, weigerte sich, Besucher zu sehen und sprach vier Jahre lang kaum ein Wort.
Er hatte während seiner Zeit fünf verschiedene Zellengenossen gehabt – einen Raucher, der miaute und es nicht gewesen war; einen Fixer, der es gewesen war und es wieder tun würde; zwei Männer, die von den verrückten Schlampen, mit denen sie verheiratet waren, dazu gebracht worden waren; und den jungen Kieran, der die gesamte Zeit seines achtzigtägigen Aufenthaltes geweint hatte.
***
Chas zog sich den weißen Arbeitsanzug an, den ihm der Boss geschenkt hatte. Er hielt seine Tüte fest umklammert, als er dem Boss durch die Halle nach draußen folgte. Er hatte geglaubt, dass er mehr empfinden werde, wenn die Schlüssel baumelten und die gewaltige Metalltür sich öffnete, aber er empfand fast gar nichts. Der Boss, den er mochte, hatte sich am Vorabend von ihm verabschiedet. Ansonsten scherte sich niemand um ihn.
Das Wichtigste, was Chas im Gefängnis gelernt hatte, stammte aus einem zehnminütigen Gespräch mit einer Krankenschwester. Er hatte um einen Termin bei einer Krankenschwester gebeten, weil das zu den wenigen Dingen im Gefängnis gehörte, die man selbst bestimmen konnte. Die junge Frau war zu ihm gekommen und hatte ihm zugehört, während er sich beklagte, dass er es nicht geschafft habe, auf den Menschen aufzupassen, den er liebte. Deshalb sei er hier, weil er versucht habe, auf den Menschen aufzupassen, den er liebte. Aber er habe versagt.
Die Krankenschwester sagte ihm, dass er aufhören solle, sich selbst anzuklagen. Er habe sein Bestes versucht, und es sei nicht seine Schuld. Stattdessen solle er sich um sich selbst kümmern. Er solle zulassen, geliebt zu werden.
Chas war sprachlos. Sie hatte recht. Es war nicht seine Schuld gewesen, und er verdiente es, geliebt zu werden. Als die Tür erneut hinter ihm abgeschlossen wurde, sah er sich in der silberweißen Zelle um und wusste, wer der Mensch war, der ihn lieben sollte. Es war Krissie.
Während Chas mit dem Taxi in die Stadt fuhr, fühlte er sich wie in einer Achterbahn – außer Kontrolle, dem Tode nahe. Zu viel Lärm, zu viel Geschwindigkeit, zu viele Menschen. Er legte seine Hände auf die Ohren und hob den Blick erst wieder, als der Taxifahrer ihn am Bein zupfte. »Sie sind da.«
Chas verließ das Taxi und sah das Haus an, vor dem er stand. Es war ein nettes, kleines Reihenhaus in einem netten, kleinen Vorort von Glasgow. Er holte tief Luft, prüfte seine Frisur im Seitenspiegel eines parkenden Autos und ging zur Tür.
Dave, Krissies Vater, öffnete die Tür. Er hielt einen weinenden kleinen Jungen im Arm und sah ziemlich übermüdet aus.
»Chas! Wie geht es dir? Bist du in Ordnung? Komm doch rein! Wie schön, dich zu sehen. Anna ist gerade weggegangen, um ein Schmerzmittel für Robbie hier zu holen. Sie ist gleich wieder da. Komm rein!«
»Nein, nein. Ich wollte bloß wissen, ob Krissie da ist.«
»Sie macht Zelturlaub. Wir kümmern uns solange um den Zwerg. Das ist Robbie, Krissies Sohn.«
Chas’ Mut sank, als er sich vorstellte, dass Krissie mit jemandem zusammen war. Er bemühte sich tapfer, es zu verbergen.
»Oh, hallo Robbie! Du hast die Wimpern deiner Mum geerbt, stimmt’s? Wo sind denn deine Mum und dein Dad hin?«
»Seine Mum ist mit Kyle und Sarah unterwegs.«
»Oh, und Robbies
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