Furchtbar lieb
tiefen Stimme. »Ich heiße Sarah.«
Pläne, positives Denken und Sorgen über Scheiße und Kotze waren lange vor der Ankunft der Ratte verblasst. Sarah hatte in einer Welt umherwirbelnder Tagträume gelegen, in einer Welt, wo ein kleines Mädchen weinte und wo es keinen Gott gab. Diese Welt war selbstgenügsam und auf fast schon beruhigende Weise von der Realität abgetrennt, und so fühlte es sich wie eine unhöfliche Unterbrechung an, als der Stein, den Sarah mit dem Blut ihrer Stirn verschmiert hatte, mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel.
Sarah hatte Angst. Sie fühlte sich so, wie sich das kleineMädchen in dem dunklen Raum gefühlt hatte, wenn sein Stiefvater endlich die Tür aufschloss.
Sarahs Stiefvater war Mike, und er hatte den aufregendsten Beruf der Welt. Jahrelang hatte er in Hollywood Filme produziert, ehe er nach Großbritannien gekommen war, um an einem aufregenden neuen Fernsehprojekt mitzuarbeiten. Nachdem er sich in Sarahs Mutter verliebt hatte, war er nach Glasgow gezogen – allerdings fragte Sarah sich später, ob nicht eher das Foto ihrer fünf Jahre alten Tochter, das ihre Mutter mit sich herumgetragen hatte, ausschlaggebend gewesen sei.
Ein Jahr lang schwebte Sarah im siebten Himmel. Ihr früherer Vater, der sie verlassen hatte, wurde durch einen strahlend neuen Vater ersetzt, der sie über alles liebte und maßlos verhätschelte. Mike gab ihr Geld und Süßigkeiten und machte den besten Kakao des Universums. Sie saß am Frühstückstresen und schaute ihm zu, während er in einem kleinen Topf sorgfältig die Milch erhitzte. Dann rührte er den Kakao mit einem Tropfen heißen Wassers in einer Tasse an. Als Nächstes schüttete er die klebrige Schokoladenmixtur in die Milch und rührte das Ganze sanft um. Schließlich goss er die fertige Schokolade in einen großen, weißen Becher, den er vor sie hinstellte. Er beobachtete ihr Lächeln, während er drei runde rosa Marshmallows darüberstreute. Ein wunderbares Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in ihr aus, wenn sie beobachtete, wie die Marshmallows schmolzen und in der warmen braunen Milch versanken.
Mike nahm sie auch ins Kino mit und las ihr abends Geschichten vor. Er passte auf sie auf, wenn ihre Mum ausging, und er ließ sie sogar Filme sehen, die keine Altersempfehlung hatten. Sie musste dafür nur möglichst oft ihre Freundinnen einladen und dann ein braves Mädchen sein und im Badezimmer bleiben.
Als der Stein zu Boden fiel, hätte Sarah fast »Danke, Mike« gesagt, so wie damals, wenn er die Tür wieder aufschloss. Aber sie hatte sich verändert, seit sie lebendig begraben worden war. Mit ihren Manieren war es stetig bergab gegangen, und so sagtesie weder Danke noch auch nur Hallo. Sarah musste erneut in Ohnmacht gefallen sein, aber als sie aufwachte, gab Kyle ihr etwas zu trinken und renkte ihre Schulter ein, die knirschend ihren alten Platz einnahm. Er untersuchte sie gründlich. Sie konnte jetzt ihren Arm bewegen, der ansonsten – erstaunlicherweise – unversehrt geblieben war. Sie konnte ihre Finger bewegen. Sie konnte nicken: Ja, ihr Name war Sarah, und sie befand sich in Schottland, und Tony Blair war der Premierminister Großbritanniens. Sie konnte beide Beine bewegen.
»Dein Gesicht ist geschwollen, und ich glaube, zwei Rippen sind gebrochen … Aber das kommt alles in Ordnung, völlig in Ordnung.«
Sarah lag rund sechzig Minuten einfach da, während Kyle sie versorgte, ihr Medikamente gab und ihre Rippen verband. Sie konnte nicht reden, und sie wollte es auch nicht. Da sie nichts zu sagen wusste, saß sie einfach still da, sah zu, wie die Zeit auf Kyles Armbanduhr verstrich und sammelte ihre Kräfte.
Schließlich war sie bei ausreichend klarem Verstand, um zu bemerken, dass sie auf etwas saß, das scharf und metallisch war: einem Zeltpflock. Und um zu sehen, dass sich in Kyles Überraschungstüte auch Sägen und Säcke befanden, und dass er hergekommen war, um sie in Stücke zu hacken.
Ihr Zorn flammte so jäh und überwältigend auf, dass sie den Pflock hervorzog, auf dem sie saß, sich aufrichtete und ihn durch eines von Kyles klaren blauen Augen tief in sein Gehirn rammte.
Er wand sich. Er hätte sich nicht winden sollen. Er hätte mausetot umfallen sollen. Stattdessen fuchtelten seine Arme herum, und er stand auf. Sarah hatte nicht die Kraft, hinter ihm herzulaufen. Und so stand sie in ihrer verpissten und verschissenen Hose auf, griff nach einem anderen Zeltpflock und ging ihm langsam hinterher. Er
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