Furchtbar lieb
von der Klippe gestoßen hätte, würde Kyle noch leben. Ich hatte ihn unter die Erde gebracht.
Gleichzeitig war ich hocherfreut. Ich hatte niemanden im eigentlichen, physischen Sinn getötet. Danke, Herr, sagte ich wieder und wieder und wieder, als die Berge erst Ackerland wichen, dann Naherholungsgebieten, dann den hässlich-grauen, kieselfarbenen Mauern der Glasgower Bungalows. Ich hatte meine beste Freundin nicht umgebracht. Ich musste nicht mit gespenstisch leerem Blick und zerzaustem Haar in einem winzigen, raucherfüllten Raum sitzen und mit meiner Schuld leben. Wenn man mir die Gelegenheit gäbe, könnte ich versuchen, meinem Kind eine gute Mutter zu sein.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Polizei überzeugthatte, mich zu der Anhörung gehen zu lassen, denn ich war eine wichtige Zeugin, und man hatte noch viele Fragen an mich. »Bitte«, sagte ich. »Er ist krank, und er wird weinen … Lassen Sie mich zu der Anhörung gehen. Sie dauert nur eine halbe Stunde. Dann können meine Eltern auf ihn aufpassen, bis Sie mit mir fertig sind.«
Sie gaben nach, unter der Bedingung, dass ich Begleitschutz erhielte.
Als die Anhörung näherrückte, ging ich die Situation in Gedanken durch. Aus der Sicht des Komitees sprachen folgende Argumente dafür, dass ich meinen Sohn behielt:
Ich war die Kindesmutter.
Den Rest würde ich später nachtragen.
Die Argumente, die dagegen sprachen, dass ich meinen Sohn behielt, waren:
Ich litt unter einer postnatalen Depression.
Ich hatte in der Vergangenheit des öfteren Rauschmittel genommen.
Ich hatte das Kind zweimal allein gelassen.
Ich war die Schlampe des Viertels – verdammt, des ganzen Landes.
Ich war eine Ehebrecherin.
Ich hatte meine beste Freundin über eine Felskante gestoßen und sie dann in einer Höhle versteckt und dem Tod überlassen.
Ich sagte mir, dass ich optimistisch bleiben müsse. Also fügte ich voller Optimismus hinzu: Aber das war alles ein Versehen.
Hätte ich für die Anhörung einen Bericht über mich selbst schreiben müssen, wäre er nicht positiv ausgefallen. Er wäre, um die Wahrheit zu sagen, außerordentlich negativ ausgefallen. Ich hätte Sätze wie diese verwendet:
Ms. Donald scheint unfähig zu sein, ihrem Kind in ihrer chaotischen Lebensführung Vorrang einzuräumen.
Wenig lässt darauf schließen, dass Ms. Donald stetig und zuverlässig für ihren Sohn sorgen kann.
Ms. Donald zeigte keine Einsicht hinsichtlich ihres Verhaltens und des Einflusses, den dieses Verhalten auf ihr Kind zeitigen könnte.
Die Unterzeichnete ist wenig zuversichtlich, dass Ms. Donald mit dem Amt bezüglich der Verbesserung ihrer elterlichen Fähigkeiten kooperieren wird …
»Sieh mich an, Kriss.« Es war Chas, der mich zu beruhigen versuchte. »Du hast Fehler gemacht, aber du bist ein guter Mensch, und wir werden für alles eine Lösung finden. Sag ihnen einfach, was du empfindest.«
Während das Polizeiauto draußen wartete, lief ich mit Chas und einem der Kommissare im Schlepptau in das Gebäude. »Du bleibst hier«, sagte ich zu Chas, und dann ging ich hinein und setzte mich wieder an diesen schrecklichen Tisch. Der achtundzwanzig Jahre alte Arsch mit Haartolle, der mich vor Monaten (zu Recht) der Voreingenommenheit beschuldigt hatte, saß mit zwei andern Mitgliedern des Gremiums mir gegenüber. Meine Mutter, mein Vater und Frau Twinset-mit-Perlen-Sozialarbeiterin saß neben mir, und der Berichterstatter saß am Tischende. Sie seien hier, sagte der Berichterstatter, um den Erlass zum Schutz des Kindes zu überprüfen und um eine Entscheidung darüber zu treffen, was für das Kind das Beste sei. Ob ich etwas zu sagen hätte?
Ja, hustete ich. Das Wort war mir im Hals steckengeblieben. Keine Arroganz, keine Drohungen. Ich hätte tatsächlich einiges zu sagen.
Zunächst wolle ich mich für die Fehler entschuldigen, die ich gemacht hätte – dafür, dass ich Robbie allein gelassen hätte, dass ich ein bisschen zu viel getrunken und zu viel gearbeitet hätte und – ich sah den Typen mit der Haartolle an – dafür, dass ich voreingenommen gewesen sei. Mutter zu sein, ist die schwierigste Sache der Welt, sagte ich. Mir sei nie klar gewesen, wie schwierig.
Dann bat ich um Hilfe. Ich würde eine psychologische Beratung aufsuchen, mit dem Trinken aufhören, bei meinen Eltern wohnen, meine Medikamente nehmen, alles. »Aber bitte, bitte«, bettelte ich, »lassen Sie mich diejenige sein, die für ihn sorgt.«
Perle sprach zu lange in dem
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