Furor
natürlich eine Menge Wege, den Bullen und denÜberwachungskameras zu entgehen: Abkürzungen über Hinterhöfe, die Schatten von Müllcontainern oder Teile der Kanalisation. In dem Viertel, in dem er aufgewachsen war, hatte er alle diese Wege gekannt. Aber dies hier war nicht sein Revier.
An der Staatskanzlei hatte er Glück, alle Ampeln standen auf Grün. Vor der Luitpoldbrücke, im Schatten des Friedensengels, wollte er nach links abbiegen. Aber dort standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Er nutzte die Gelegenheit und wechselte die Straßenseite. Mit Schwung sprang er einem kleinen Zweisitzer auf die Kühlerhaube und von dort weiter auf den nächsten Wagen. So kam er gut voran. Er folgte der Isar, überquerte den Fluss auf der Max-Joseph-Brücke und drang schließlich in das Straßengewirr Bogenhausens ein. Schließlich erreichte er die Straße, an der die Schule liegen musste. Aber in welcher Richtung? Rechts würde er irgendwann wieder auf den Prinzregentenplatz stoßen mit seinem städtischen Trubel und Verkehrschaos. Die andere Richtung, stadtauswärts, erschien ihm wahrscheinlicher. Dort sah er in einiger Entfernung Betonsockel mit Blumenkästen auf der Straße. Dahinter musste sich eine verkehrsberuhigte Zone befinden. Das sah gut aus. Hinter den Hemmblöcken wandelte sich das Erscheinungsbild der Straße stark. Sie wurde jetzt von grauen Platanen gesäumt. Die Anwohner hier schützten ihre Hauseingänge mit gusseisernen Gittern, deren Spitzen wie Lanzen drohten. An der Menge der Glassplitter auf den Mauern konnte man das Einkommen der Hausbewohner abschätzen. Je mehr es zu stehlen gab, desto schärfer die Abwehrmaßnahmen. Wenn Hobbes sich die Hilfe der Polizei gewünscht hätte, so wäre nichts weiter nötig gewesen, als an einem der Gitter hochzuklettern, bis er von einer der Lichtschranken erfasst würde, die mit Sicherheit hier überall installiert waren. Der Alarm hätte die Bullen schnell auf den Plangerufen. Aber wäre die Polizei jetzt hilfreich? Wohl eher nicht, vermutete er.
Es war hier fast unheimlich still. Im Vergleich zur Stadtmitte herrschte geradezu Friedhofsruhe. Er sah nicht einen Menschen auf der Straße.
Es dauerte nicht mehr lange, und er hatte die Schule erreicht. Schwer atmend stützte er die Hände auf die Knie und betrachtete das große vierstöckige Haus aus dem vorletzten Jahrhundert. Es stand etwas isoliert von den umgebenden Häusern auf dem hinteren Teil eines weiten Platzes, aus dessen Kiesboden etliche riesige Platanen wuchsen. Die Hälfte der Bäume war tot oder teilweise abgestorben. Die andere Hälfte aber hatte der Umweltverschmutzung bisher getrotzt. Riesige Bogenfenster garantierten helle Klassenräume. In einem kleinen Turm auf der linken Seite erklang eine Glocke. Eine echte Glocke. Hobbes konnte durch die Ritzen der Holzverkleidung bronzefarbene Bewegung erkennen. Zum Eingangsportal führte eine breite Treppe aus konzentrisch geschwungenen Stufen. Links und rechts war die Treppe von kleinen Pfeilern eingerahmt, auf denen die verwitterten Figuren zweier Kinder thronten. Das eine kniete mit andächtig gefalteten Händen, den Kopf zum Himmel erhoben. Ora stand in den Pfeiler gemeißelt. Die zweite Figur hielt ein Buch und einen Zirkel. Zu ihren Füßen konnte Hobbes das Wort Labora erkennen.
Bete und arbeite, dachte er, als er die beiden Steinfiguren betrachtete. Bet’ und arbeit’, sagt die Welt, bete kurz, denn Zeit ist Geld. Vor der Türe steht die Not, bete kurz, denn Zeit ist Brot. Er konnte sich nicht erinnern, woher die Zeilen stammten. Ein altes Arbeiterlied, das sein Vater manchmal krakeelt hatte?
Auch die Worte über dem Portal waren kaum noch lesbar: Pro patria. Für das Vaterland. Na klar, bete und arbeite für das Vaterland. Diese Schule musste wirklich ziemlich alt sein.Hobbes setzte sich auf die niedrige Mauer, von der der Schulhof eingefasst wurde. In diesem Viertel hatte man sogar darauf verzichtet, den Hof mit einem übermannshohen Zaum zu sichern, wie es sonst üblich war, um die Schüler drinnen und Störenfriede draußen zu halten.
Die späte Nachmittagssonne bemühte sich redlich, die zum Überleben der Platanen notwendige Energie durch die Wolkenbarriere zu schicken. Hobbes zog die Rollerblades aus, holte die Turnschuhe aus dem Rucksack und zog sie an. Aus einem der Fenster wehte der Klang einer Frauenstimme herüber.
Inzwischen hatte sich Hobbes’ Atem wieder beruhigt, und er schaute sich um.
Niemand war zu sehen. Etwa hundert
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