Furor
»Sareah?«
»Dietz hat ihm geschrieben, dass sie Sareah vor irgendeiner Schule abfangen wollen.«
Sebastian erstarrte. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, sah er auf einen Schuh, der unter dem Schreibtischstuhlin Blumenthaus Büro lag. Was sollte er jetzt tun? Er musste zu Sareah!
Plötzlich erfasste Sebastian das ganze Bild: Im Schatten unter der Arbeitsplatte lag ein Körper. Blumenthau war in die Ecke unter dem Schreibtisch gezwängt, halb von dem Stuhl verdeckt, auf dem er sonst saß. Die Augen in dem hageren Gesicht waren weit geöffnet, Lichtpunkte glitzerten darin. Die lange Nase wirkte noch dünner als sonst.
In seiner Brust klaffte ein riesiges Loch.
In diesem Augenblick begriff Sebastian. Jemand hatte ihn verfolgt, und dieser Jemand musste gehört haben, wie er zu Wallroth gesagt hatte, er würde jetzt die Daten zerstören. Und dieser Jemand war vor ihm hier angekommen. Hätte Sebastian den Fahrstuhl genommen, um herunterzukommen, so wäre Blumenthau für ihn nicht zu sehen gewesen. Er wäre hereingekommen und . . . Er musste hier weg!
Aus den Augenwinkeln nahm Sebastian eine Bewegung wahr. Ein Schatten zuckte über die Fahrstuhltüren. Sebastian warf sich zurück und war zum ersten Mal in seinem Leben dankbar, dass die Eisentüren im Treppenhaus so schwer zu öffnen waren. Mit Schwung und einem satten Seufzen der Gummidichtung fiel die Tür in ihren Rahmen. Sebastian rannte die Treppe hinauf. Während er lief, stiegen ihm Tränen in die Augen. Trauer, Wut und Entsetzen – Blumenthau ist tot, Blumenthau ist tot, Blumenthau ist tot, kreiste es in seinem Kopf. Wäre der alte Mann zehn Minuten eher nach Hause gegangen, dann würde er noch leben, fuhr es ihm durch den Kopf. Denn der Mord war bestimmt gerade erst geschehen, als er auf dem Weg von Wallroths Büro hierher war. Er selbst, Sebastian, war schuld an Blumenthaus Tod. Er, er, er . . .
Als er den nächsthöheren Treppenabsatz erreicht hatte, hörte er, wie die Tür zum Zentrum sich ein zweites Mal schloss. Er nahm zwei Stufen auf einmal, dann drei, sprang mehr, als er lief,bis er ausrutschte und auf die Knie knallte. Verzweifelt rappelte er sich wieder hoch und rannte weiter. Mit der rechten Hand zog er sich am Geländer hoch. Greifen, springen, springen, greifen, springen, springen, auf dem nächsten Treppenabsatz um hundertachtzig Grad herum, wieder greifen, springen, springen.
Das war doch alles ein Irrtum, musste ein Irrtum sein. Jemand hatte sich vertan. Eine innere Stimme versuchte ihn davon zu überzeugen, dass es vielleicht das Beste wäre, stehen zu bleiben und dem Typen hinter ihm zu sagen, er habe sich geirrt. Ein Missverständnis. Dann fiel ihm Blumenthau wieder ein. Er sah wieder die aufgerissenen Augen und die zerfetzte Brust vor sich. Blumenthau hatte sicher auch nicht gedacht, dass heute seine letzte Stunde schlagen würde.
Sebastian hatte den fünften Treppenabsatz erreicht. Die Türen der zwei nächsthöheren Etagen waren an ihm vorbeigeflogen, aber er hatte sich nicht getraut, sie zu öffnen. Sie gingen alle so verdammt schwer auf, und während er sie aufstemmte . . .
Sebastian lief auch an der nächsten Tür vorbei, auf der die Ziffer 0 in großer Blockschrift verkündete, dass hinter ihr das Erdgeschoss lag. Der siebte Absatz, weiter, weiter, weiter . . . die vierte Tür, weiter, weiter, weiter . . . der achte Absatz.
Er spürte, dass er langsamer wurde. Sein Atem ging schwer, in seinen Ohren dröhnte der Pulsschlag. Lange würde er nicht mehr so laufen können. Der zehnte Absatz, der elfte, der zwölfte, der dreizehnte Absatz. Es waren noch zwei Etagen über ihm. Dann war Schluss mit dem Treppensteigen. Die Tür zum Dach war verschlossen, das wusste er. Und da oben hätte er sowieso in der Falle gesessen. Aber so oder so – er konnte nicht mehr. Eine Erleuchtung, um Himmels willen, eine Erleuchtung, betete er. Und hätte er an einen Gott geglaubt, dann hätte er ihm jetzt alles versprochen – wenn nur dieser Albtraum vorbei wäre.
Auf dem nächsten Absatz hechtete er in die dunkle Nische. Dort drückte er sich an die Wand und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt, da er nicht mehr rannte, drangen auch wieder andere Geräusche an sein Ohr. Hastige Schritte und heftiges Schnaufen. Das war kein Irrtum! Sein Verfolger war nur knapp hinter ihm und lief offensichtlich noch immer sehr schnell. Der Kerl musste gut im Training sein. Sebastian hielt die Luft an, als der Typ den Absatz erreichte. O
Weitere Kostenlose Bücher