Furor
Dann schaute er Sebastian ins Gesicht.
»Kannst du dir nicht denken, warum ich gelogen habe?«, fragte er. Sebastian war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Wallroth dermaßen gelassen bleiben würde.
»Ich hätte mir denken müssen, dass dich meine Geschichte nicht überzeugt hat. Deine Eltern, Streit und Trennung, das kann man sich kaum vorstellen, was? Aber mir ist so schnell nichts Besseres eingefallen.«
»Aber warum hast du mich belogen?«
»Herrgott! Weil ich nicht wollte, dass du erfährst, was deinem Vater . . . und mir . . . passiert ist. Was wir damals angerichtet haben. Wozu ist es denn gut, dass du es weißt? Zu nichts. Dein Vater konnte für das, was geschehen ist, nichts. Warum solltest du dir also deshalb Gedanken machen.«
»Aber jetzt weiß ich schon zu viel – und dann kann ich auch alles wissen.«
»Okay«, sagte Wallroth ernst. »Was willst du wissen?«
»Was habt ihr damals gemacht? Woran habt ihr gearbeitet, und was ist schief gegangen?«
Wallroth blickte nachdenklich auf den Stift in seiner Hand. Dann legte er ihn auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Als er anfing zu erzählen, waren seine Augen halb geschlossen.
»Wir haben damals an einem Mittel gearbeitet, das Menschen in Belastungssituationen helfen sollte, ruhig zu bleiben. Es sollte zum Beispiel bei der Feuerwehr zum Einsatz kommen oder bei der Polizei. Eben bei Menschen, die in gefährliche Situationen kommen und dann überlegt handeln müssen.
Wir waren davon ausgegangen, dass Stress von Reizen ausgelöst wird. Solche Stressoren wirken aber nur dann, wenn sie aus dem Meer der unzähligen übrigen Reize, die ständig auf uns einwirken, herausragen. Du kennst ja sicher die These, dass Schizophrene an Fehlfunktionen im Dopamin-System leiden?«
Sebastian hatte eine ungefähre Vorstellung. Soweit er wusste, litten Patienten mit dieser Krankheit unter einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umwelt. Unter all den Reizen, die aus der Umgebung auf einen Menschen einstürzen, konnten sie die wichtigen nicht mehr von den unwichtigen unterscheiden: Der zufällige Blick eines Passanten, das Ticken eines Weckers, ein Zug, der vorbeifährt – alles bekam für den Patienten eine Bedeutung, alles wurde auf die eigene Person bezogen. Häufig führte das zu Paranoia – Verfolgungswahn. Zu der verzerrten Wahrnehmung der Außenwelt kamen dann manchmal auch noch verdrehte Wahrnehmungen der Innenwelt: Stimmen im Kopf, die den Patienten ansprachen. Ursache dafür sollten unter anderem Störungen in Hirn-Schaltkreisen sein, die mit dem Botenstoff Dopamin arbeiteten. Diese Substanz sorgte im Gehirn für Informationsfluss, indem sie von einer Nervenzelleabgegeben wurde, an benachbarten Nervenzellen andockte und diese aktivierte.
Und das Dopamin-System, das wusste man inzwischen recht gut, hing wiederum stark mit der Auswahl und Bewertung von Reizen zusammen. So schütteten bestimmte Nervenzellen etwa bei angenehmen Ereignissen wie Sex oder einem guten Essen, aber auch bei Erschrecken Dopamin in großen Mengen aus und lenkten damit sozusagen die Aufmerksamkeit des Gehirns auf dieses Geschehen.
»Das Dopamin-System«, fuhr Wallroth fort, »war die Zielscheibe für unseren Versuch. Wir dachten, wenn es uns gelingt, hier gezielt einzugreifen, dann könnten wir die Reizwahrnehmung beeinflussen. Wir wollten erreichen, dass bestimmte Reize nicht mehr als besonders stark wahrgenommen werden. Alle Reize sollten gleich stark wirken. Und dazu wollten wir ein Derivat aus der Coca-Pflanze benutzen. Kokain, das weißt du wahrscheinlich auch, blockiert die Wiederaufnahme des Dopamins in die Nervenzellen, die sie abgegeben haben. Das bedeutet, der Botenstoff bleibt länger in dem Spalt zwischen zwei Nervenzellen aktiv, und die Reize zwischen den Zellen werden stärker und leichter weitergegeben.
Es war uns gelungen, eine Droge zu entwickeln, die eine leichte Euphorie hervorrief. Das bewusste Denken wurde nicht beeinträchtigt, und eine Suchtgefahr schien es auch nicht zu geben. In Stress-Situationen sind wir ruhig geblieben, und . . .«
»Wir?«, fragte Sebastian. »Ihr habt es an euch selbst ausprobiert?« Ihm fiel ein, dass sein Vater etwas in dieser Richtung tatsächlich auch in seinem Brief erwähnt hatte.
»Ja, wir haben es an uns selbst ausprobiert. Nachdem die Tierversuchs-Phase erfolgreich abgeschlossen war. Es funktionierte. Es schien, als hätten wir ein echtes ›Heroin‹ entwickelt.«
Sebastian wusste, worauf
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