Fyn - Erben des Lichts
meinen heimlichen Wunsch, Myrius würde nie wieder erwachen. Es kam mir selbstsüchtig vor, dabei war es nichts als der Kampf ums nackte Überleben. Falls Myrius den wahren Tathergang schilderte, würde ich nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit mein Ehrenabzeichen verlieren, sondern auch mein Leben. Hätte ich es doch bloß fertiggebracht ihn zu töten, als ich die Gelegenheit hatte! Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, mich in sein Krankenzimmer zu schleichen und ihn endgültig zu beseitigen. Am einfachsten wäre natürlich gewesen, wenn Norrizz diese Arbeit für mich übernommen hätte, aber der Mistkerl ließ sich einfach nicht blicken. Mehrfach schlich ich auf der Krankenstation herum, jedes Mal unter dem Vorwand, mich nach Myrius’ Befinden zu erkundigen. In Wahrheit spionierte ich jedoch die Umgebung aus. Ich kam schnell zu dem Schluss, dass mein Vorhaben nicht umzusetzen war. Mehrere Mitglieder der Liga bewachten das Krankenzimmer rund um die Uhr.
Norrizz hatte hingegen ganze Arbeit geleistet. Alle Mitwisser waren tot, niemand wusste von meiner vermasselten Prüfung. Alles hätte perfekt sein können, wäre ich nicht so weichherzig gewesen, den Magier mit zur Treppe zu schleifen. Ich hätte ihn zurücklassen müssen. Obwohl mir das reichlich kaltschnäuzig vorkam, hätte es mir im Nachhinein ruhigere Nächte beschert.
Man kann zwar nicht behaupten, dass das Leben in den folgenden Wochen in geordneten Bahnen verlaufen wäre, aber man bemühte sich, uns verbliebenen Absolventen einen ordnungsgemäßen Einstieg in unser Leben im Dienst der Krone zu ermöglichen. Wie man mir prophezeit hatte, bekam ich einen Platz in der Liga zugewiesen, ich würde folglich den Rest meines Lebens im Perlenturm verbringen. Auch Galren und Silena wurde diese Ehre zuteil. Da ich meinen Abschluss als Kämpfer an der Waffe gemacht hatte, wollte der König unbedingt noch mindestens einen Magier um sich wissen, zumal bislang niemand wusste, wie es mit Myrius weitergehen würde. Mit Silena hatte er eine gute Wahl getroffen. Wenn ich mir jedoch vorstellte, dass Galren im Falle eines Ablebens des Meistermagiers zu dessen Nachfolger ausgebildet würde, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Er war ein Wichtigtuer und Schaumschläger, kaum angenehmer als Per. Ich versuchte, ihm so oft es ging, aus dem Weg zu gehen. Trond und Kel, die beiden verbliebenen überlebenden Absolventen, schickte man zu einem Außenposten der Liga an die Küste. Sie würden dort eine klassische Offizierskarriere verfolgen.
Die Lage im Land war immer noch mehr als angespannt, beinahe täglich erreichten uns Nachrichten von kleineren oder größeren Scharmützeln in der Stadt. Meist feindeten sich Alven und Menschen offen an, aber einen Mord hatte es glücklicherweise nicht mehr gegeben. Vater und Jonnef zeigten sich sehr froh darüber. Es würde allem Anschein nach nicht zu einem Bürgerkrieg kommen. Wenn ich nicht so sehr mit meinem Schicksal zu kämpfen gehabt hätte, hätte ich mir vermutlich mehr Sorgen um die Sicherheit der Stadt gemacht, und vielleicht wäre ich zu dem Schluss gekommen, dass eine Unterbrechung der Auseinandersetzungen nicht zwangsläufig eine Auflösung des Problems bedeutete. Doch um derlei Dinge machte ich mir keine Gedanken.
Nach sechs Wochen erwachte Myrius aus dem Koma. Man berichtete uns davon beim Frühstück, und während die anderen erleichtert aufatmeten und aufgeregte Fragen stellten, blieb mir der Bissen im Hals stecken. Ich bemühte mich um ein gequältes Lächeln, was sich angesichts der Panik, die in mir aufstieg, als mühsam erwies. Was würde Myrius berichten? Würde er mich verraten? Mein Herz schlug mir bis zum Hals, gedanklich malte ich mir bereits Fluchtmöglichkeiten aus. Doch wie ich später erfuhr, war Myrius zwar wach und ansprechbar, aber er konnte sich an den Tag der Abschlussprüfung nicht mehr erinnern. Dies änderte sich auch nicht in den folgenden Wochen seiner Genesung. Mein Vater – der ihn regelmäßig besuchte – erzählte mir von Myrius’ fürchterlich entstelltem Gesicht. Auch nachdem man den Magier aus der Krankenstation entlassen hatte, entschied er sich für ein einsames und zurückgezogenes Leben. Ich bekam ihn nicht ein einziges Mal zu sehen, wofür ich ehrlichen Dank empfand. Ich wollte seine Erinnerungen mit meiner Anwesenheit nicht wach kitzeln. Anscheinend blieb es bei der Amnesie, denn niemand kam nachts in mein Zimmer und nahm mich fest, um mir einen Strick um den Hals zu legen,
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