Gabe der Jungfrau
Urteilsverkündung hatte er dem ehemaligen Bürgermeister von Schlettstadt verkündet, dass er kein Mitleid zu erwarten habe.
Johann Ullmann war einer der aufrührer gewesen, die in Schlettstadt eine Verschwörung angezettelt hatten. Sie forderten die abschaffung des Zolls, eine Beschränkung der Pfarrerpfründe und eigene Gerichte. Doch die Verschwörer wurden gefangen genommen, gefoltert und verstümmelt, die anführer Johann Ullmann und Nicolaus Ziegler außerdem zum Tode verurteilt.
Joß Fritz stand am Rand des Henkersplatzes unter unzähligen Schaulustigen. Wie der Verurteilte hatte auch Joß Fritz allen Grund aufzubegehren. In seinem Heimatdorf Untergrombach war er als Leibeigener geboren worden und kannte die Sorgen der Bauern. Missernten, Hungersnöte und Krankheiten machten den armen Menschen schwer zu schaffen, doch wurden sie zusätzlich vom adel, den reichen Herren, von Wucherern und advokaten ausgebeutet.
Auch Joß Fritz wollte etwas verändern und war deshalb nach Schlettstadt ins Elsass gekommen, um sich Rat bei Gleichgesinnten zu holen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Stattdessen musste er der Zerschlagung der »Bundschuh Verschwörung« und der Verurteilung Johann Ullmanns beiwohnen. Nach der Urteilsverkündung hatte er sich sogleich nach Basel begeben, die Stadt aber erst erreicht, als die Hinrichtung bereits in vollem Gang war.
Joß ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Der adel und die Reichen sahen dem Spektakel regungslos zu. Doch in den Gesichtern der armen Menschen erkannte Fritz Trauer und Wut.
Alle Hoffnung der Landbevölkerung hatte auf Ullmann und
Ziegler gelegen. Und nun mussten die Bauern tatenlos zusehen, wie Ullmanns Körper vor ihren augen auseinandergerissen wurde. Man hatte sie gezwungen, anwesend zu sein, denn die Reichen wollten den armen ihre Macht demonstrieren – ihnen zur abschreckung zeigen, was mit aufständischen geschehen würde.
Fassungslos über die Grausamkeit stand Joß Fritz am Hinrichtungsplatz und betete, dass Ullmann von seinen Qualen bald erlöst sein würde.
Plötzlich griff jemand nach seinem Umhang. Ohne zu überlegen schlug er zu, sodass der angreifer zu Boden ging.
»Was erlaubt Ihr Euch?«, zischte Fritz, bemüht, keine aufmerksamkeit zu erregen. Doch die Umstehenden waren abgelenkt, denn auf dem Richtplatz war das Reißen von menschlichem Fleisch zu hören.
Als sich der Mann zu seinen Füßen nicht bewegte, kniete Fritz nieder und drehte ihn auf den Rücken. Er blickte in ein fahles eingefallenes Gesicht, aus dem die Wangenknochen spitz hervorstachen. Die Lippen des Mannes waren rissig, und sein Körper verströmte einen unangenehmen Geruch.
Nicht der Schlag hatte den Unbekannten niedergestreckt, sondern anscheinend war er in Ohnmacht gefallen und hatte sich beim Fallen an Fritz klammern wollen.
Leicht rüttelte Fritz an den Schultern des Mannes. Die Lider des Fremden flackerten, und er kam langsam zu Bewusstsein.
»Ihr habt wohl lange nichts zu essen bekommen«, stellte Fritz fest und half dem Mann auf die Beine. Schwach und zittrig stand er nun da und sah mit bleichem Gesicht zum Henkersplatz. Fritz folgte seinem Blick und sah, wie der auseinandergerissene Körper des Verurteilten auf einem Karren geworfen wurde.
»Ja, es ist schon einige Tage her, dass ich etwas gegessen habe«, flüsterte der Unbekannte mühevoll.
Joß Fritz musterte ihn.
»Ihr tragt den Umhang eines Pilgers. Doch wo ist Euer Pilgerstab und Eure Trinkflasche?«
»Beides habe ich gegen Essen eingetauscht.«
»Ich war der ansicht, dass man als Pilger überall etwas zu essen bekommt und aufgenommen wird. Gilt es nicht als Werk der Barmherzigkeit, wenn man mit Pilgern teilt?«
Der Fremde machte eine abwertende Handbewegung.
»Überall ist die Not groß – selbst in den Klöstern. Ich komme aus dem Heiligen Land, ich war in Jerusalem …«
Fritz sah den Fremden misstrauisch an, woraufhin der Wallfahrer aus seiner Tasche eine Pilgermarke hervorzog. Fritz betrachtete die Marke kritisch.
»Man kann so etwas fälschen … habe ich gehört!«
»Ich könnte Euch von meiner Reise berichten, doch ich sehe keinen Nutzen darin, Euch von meiner Ehrlichkeit zu überzeugen. auch dass es mich Zeit kosten würde, die ich nicht habe, denn es eilt mich, da ich auf dem Weg zu meinem Elternhaus bin.«
»So schwach wie Ihr seid, werdet Ihr wohl kaum dort ankommen.«
»Woher wollt Ihr wissen, wie weit ich noch zu marschieren habe?«
»Euer Dialekt hat mir verraten,
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