Gabe der Jungfrau
zeigen und von der Wallfahrt berichten – genau so, wie Daniel Hofmeister es ihm berichtet hatte.
Nachdem Joß Fritz den Toten begraben hatte, machte er sich auf den Weg, um den letzten Wunsch des Verstorbenen zu erfüllen.
Als er den Hof erreichte, öffnete ein altes Mütterlein das Tor. Sogleich schrie sie: »Herr im Himmel, Daniel, mein Sohn!« Immer wieder schrie sie dies laut hinaus, sodass die gesamte Nachbarschaft zusammenlief.
Joß Fritz hatte vergeblich versucht, den Irrtum aufzuklären. Doch das alte Mütterlein wollte nicht zuhören, glaubte felsenfest, in ihm den heimgekehrten Sohn zu erkennen, und ließ ihn nicht zu Wort kommen. Vielmehr ergriff sie seine Hand und zog ihn in ihre Schlafkammer, wo der alte Hofmeister krank daniederlag.
Mit verschwommenem Blick sah der Todkranke auf und begann sofort dem Herrn zu danken, dass er nun endlich in Ruhe sterben könne und vor dem Tod keine angst mehr haben müsse.
Selbst Nachbarn und Verwandte zweifelten nicht, dass Daniel vor ihnen saß. Und weil die Freudentränen der alten Frau an diesem Tag nicht versiegen wollten, nahm Fritz sich vor, die Wahrheit auf den nächsten Tag zu verschieben.
In der Nacht lag er auf einer mit Heu gefüllten Matratze in der alten Kammer von Daniel Hofmeister und grübelte, warum die alte Frau keine Zweifel hatte, in ihm den Sohn wiederzuerkennen. Konnte selbst eine Mutter sich so irren? Zwar gab es tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und dem wahren Daniel Hofmeister. Beide waren groß, schlank, blauäugig, und auch die Haarfarbe und das alter stimmten. aber darüber hinaus?
Fritz dachte stundenlang in dieser Nacht darüber nach, welche Vorteile es ihm bringen würde, in die Rolle eines anderen Mannes zu schlüpfen. Und welche Nachteile daraus entstehen könnten.
Am Morgen hatte Joß Fritz den Entschluss gefasst zu bleiben – jedenfalls solange es ihm keinen Schaden brachte.
Als der Tag dämmerte, ging er zum alten Hofmeister in die Stube und sagte: »Vater, dein Sohn ist heimgekehrt!«
So wurde aus einem unfreien Bauer ein freier.
Mehlbach, 1521
Fritz’ Blick, der während seines gedanklichen ausflugs in die Vergangenheit auf seinen Fußspitzen geruht hatte, schweifte nun zurück zu seinen Kindern. Er erhob sich und kontrollierte
Peters Verband. Die Wunde hatte die Leinenstreifen durchnässt. Doch da der Junge ruhig schlief, verschob der Vater den Verbandswechsel auf den Morgen.
Müde rieb er sich die augen, fürchtete aber, dass seine Gedanken ihn wach halten würden. also setzte er sich wieder und seufzte leise. Wie lange hatte er die Erinnerungen vergraben? Wie lange hatte er sie nicht mehr an die Oberfläche kommen lassen? ausgerechnet heute mussten sie zurückkommen! Ungläubig schüttelte er den Kopf.
Und schuld war diese kleine Glasflasche, die in seine Hosentasche passte. ›Herrgott, Joß! Warum kannst du die Glasflasche nicht einfach wieder wegschließen und vergessen?‹, schalt er sich in Gedanken.
›Weil anna Maria den Inhalt der Truhe gesehen hat!‹, beantwortete er seine eigene Frage.
Auch, wenn sie mit dem, was sie in der Truhe gesehen hatte, nichts anfangen konnte – ihre Neugierde war geweckt worden. Das ahnte er, denn Fritz kannte seine Tochter. Nur mit Strenge und Furcht vor dem Vater würde er ihren Vorwitz unterdrücken können.
Dass er seine Kinder liebte, hatte er ihnen selten gezeigt. Oft spürte er den betrübten Blick seiner Frau, wenn er die Kinder anbrüllte oder züchtigte. aber er konnte sich keine Gefühle leisten, zu groß war die angst, sich zu verraten und so alle in Gefahr zu bringen. Es hatte lange gedauert, bis er nachts nicht mehr hochschreckte oder schweißüberströmt wach lag, weil die Vergangenheit ihn bis in seine Träume verfolgte und nicht losließ. auch seine Frau Elisabeth wusste nicht alles über ihn. Nur das Nötigste, und selbst das war gelogen.
»Warum nur?«, seufzte er leise. Im Grunde hatte er immer geahnt, dass er sich eines Tages der Wahrheit würde stellen müssen.
Die Vergangenheit ließ sich nicht einfach in einer Holztruhe wegschließen. auch nicht, wenn der Deckel schwer und der Schlüssel gut versteckt war.
›Irgendwann muss man für alles im Leben bezahlen!‹, ging es ihm durch den Kopf.
»Aber nicht heute und nicht morgen!«, flüsterte er, als er die Glasflasche aus seiner Hosentasche zog.
› Daniel bedeutet: Gott sei mein Richter – und deshalb wird kein weltliches Gericht je über mich richten, nur Gott
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