Gabe der Jungfrau
Brotzeit war, trugen beide Frauen die abgeschnittenen Kastanienstöcke zur Hütte. Friedlich grasten die Ziegen davor.
»Ich werde nach Martin sehen!«, sagte Ruth, kaum dass sie die Last abgelegt hatte. anna Maria und die Kinder setzten sich an einen sonnigen Platz, als ein verhaltener Schrei aus der Hütte drang. anna Maria ahnte sofort, was geschehen war.
»Kommt Kinder! Ihr müsst von eurem Vater abschied nehmen.« Ruth stand aschfahl in der Tür der Hütte.
Im Gegensatz zu seinem Bruder war Jäcklein noch zu klein, um die Worte seiner Mutter zu verstehen. Kaspar aber kullerten Tränen über die Wangen.
Regungslos saß Ruth mit den Kindern an Martins Lager und hielt seine kalte Hand, als anna Maria eintrat. Sie befürchtete, dass Ruth ihr die Schuld am Tod ihres Mannes geben könnte. Doch Ruth murmelte nur: »Jetzt muss er im Fegefeuer schmoren, weil wir kein Geld für einen Priester haben, der ihm die Sünden vergeben kann.«
Zuerst zauderte anna Maria, doch dann erwiderte sie: »Fürchte dich nicht, Ruth. Martin Luther sagt, dass allein durch die Gnade Jesu und nicht durch Geld unsere Sünden vergeben werden.«
»Ach ja?« Ruth schien erstaunt, doch anna Maria sah, dass noch andere Gedanken sie quälten.
»Was soll nun aus mir und den Kindern werden? Was soll ich jetzt machen?«, fragte sie kraftlos. als Jäcklein und Kaspar sich an die Mutter schmiegten, war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Weinend vergrub sie das Gesicht an der Schulter ihres Ältesten.
Nachdem Ruth einen Platz für Martins letzte Ruhestätte bestimmt hatte, begann anna Maria zornig ein Grab zu schaufeln. Jeder Hieb in den Waldboden galt ihrer Wut über den Tod des Mannes, der Verzweiflung seiner Frau, den armen vaterlosen Kindern, ihrer eigenen aussichtlosen Lage, aber auch dem Gedanken, dass sie am Tod des Mannes Schuld haben könnte. Ruth ahnte nicht, welche Gefühle anna Maria beschäftigten, denn sie ging wieder nach drinnen zu den beiden Buben, die noch immer am Bett des Vaters wachten.
Nach geraumer Zeit kam anna Maria nassgeschwitzt und mit Blasen an den Händen zu der kleinen Hütte zurück. Immer wieder streckte sie ihren Rücken, der ebenso sehr schmerzte wie ihre arme.
»Ich hoffe, das Grab ist tief genug, damit Tiere ihn nicht finden können«, stöhnte sie leise, während sie ihre wunden Hände mit Wasser kühlte. Obwohl Ruth den Leichnam in ein Betttuch eingenäht hatte, verströmte er einen unangenehmen Geruch.
Gemeinsam trugen ihn die beiden Frauen zur Grabstelle.
Als Martin in dem dunklen Loch lag, wurde anna Maria bewusst, dass dieser Mann niemals wieder zu seiner Familie zurückkommen würde. Scham über ihr Selbstmitleid ließ sie erröten. Zusammen mit den Kindern sprachen die Frauen laut ein Gebet für den Verstorbenen, als Ruth plötzlich sagte: »Herr, ich danke dir, dass du uns anna Maria geschickt hast!«
Erstaunt über diese Worte blickte anna Maria auf.
»Ich wusste, dass er sterben musste. Das Todeskäuzchen hatte geschrien, als er sich verletzte. Dein Gebräu hat ihm aber den Tod leichter gemacht.«
Als das Grab zugeschaufelt war, pflanzte Kaspar mehrere kleine Kastanienpflanzen darauf. Mittlerweile brach die Dämmerung herein, und der Nebel stieg im Tal empor. Eilig gingen die Frauen
und die Kinder zurück zur Hütte. Kaum waren sie dort angekommen, hörten sie auch schon das Heulen der Wölfe.
»Ruth, ich habe ein ungutes Gefühl. Vielleicht spüren die Wölfe, dass Martin gestorben ist. Lass uns die Ziegen heute in die Stube holen.«
Auch Ruth war unwohl zumute. »So früh am abend habe ich die Wölfe noch nie gehört!« Sie scheuchte die Knaben nach drinnen und lief mit anna Maria zu den beiden Ziegen. auch die schienen etwas zu spüren, denn sie zogen laut meckernd an den Stricken.
Im Wohnraum band Ruth die Tier in einem kleinen Verschlag fest und gab ihnen Futter. Zwischenzeitlich hatte anna Maria die Tür verschlossen und den schweren Riegel vorgeschoben.
Die beiden Jungen schienen die Furcht der Frauen nicht zu spüren, trauerten sie doch um den Vater. Nachdem alle zusammen ein weiteres Gebet für den Verstorbenen gesprochen hatten, schliefen die Kinder ein. Nur anna Maria und Ruth fanden keinen Schlaf. Hellwach saßen sie auf ihrem Lager und lauschten in die Dunkelheit.
»Es wird kälter!«, sagte Ruth plötzlich. Das kleine Feuer im Herd erhellte schwach anna Marias erschrockenes Gesicht.
»Schnee?«, wisperte sie.
»Nein! Dann würde es in meinem Kopf pochen. Mir tun jedoch
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