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Gabe der Jungfrau

Gabe der Jungfrau

Titel: Gabe der Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Zinßmeister
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Verurteilte niederkniete und sein Haupt auf den Henkersklotz senkte, krallten sich die Finger der alten Frau in den arm des Mannes, der neben ihr stand. Der Fremde ließ es geschehen, denn er fühlte sich schuldig. Schuldig, weil die jungen Männer sterben mussten. Schuldig für den Schmerz der Mutter, die ihren Sohn verlor. Schuldig, als die alte krummbucklige Frau nach vorne wankte und den abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes aufhob und umklammerte.
    Entsetzt wollte er sie davon abhalten, aber seine Füße waren schwer – wie in Blei gegossen.
    Angewidert sah der Herzog über die alte hinweg. Seine augen wanderten suchend umher, bis sie auf dem Fremden haften blieben. Der ballte die Fäuste und wusste doch, dass er nichts würde ausrichten können. Doch ohne Furcht erwiderte er für einen Moment den kalten Blick des adeligen. Dann wandte er sich der alten Frau zu. aus den augenwinkeln sah er, wie sie den abgehackten Kopf ihres Sohnes streichelte.
    Die Greisin hatte längst keine Tränen mehr, doch sie wollte sich nicht von dem Kopf ihres Sohnes trennen. Wenigstens er sollte in geweihter Erde beerdigt werden.
    Der Henker hatte die übrigen Köpfe in einen Sack gesteckt und die fünf Körper zusammengebunden. Ohne Erbarmen wollte er der schreienden Frau den blutigen Kopf ihres Sohnes entreißen. Mit letzter Kraft umklammerte sie den Schopf und sah sich hilfesuchend nach dem Fremden um. aber sie war zu schwach, um sich lange zu wehren. Kraftlos gaben ihre Hände nach.
    Nachdem der Scharfrichter auch den letzten Kopf in den Sack gestopft hatte, ließ er die Leiber von seinem klapprigen Gaul durch die Gassen zum Zwingertor schleifen. auf dem Schindanger würde er die Körper verscharren, die abgehackten
Köpfe sollten auf Lanzen aufgespießt und vor der Stadt zur Schau gestellt werden.
     
    Plötzlich rüttelte jemand am arm des Fremden. Er schaute nach unten und sah den kopflosen Körper des jungen Jörg Tiegel. Schreiend schlug er nach dem Toten, doch dessen kalte Hand hielt die seine umklammert …

    »Daniel … Daniel …?«
    Schweißgebadet kam Hofmeister zu sich. Es dauerte einen Moment, bis er wusste, wo er war.
    »Hast du schlecht geträumt?«, fragte die Magd, die diese Nacht bei ihm geblieben war. Er gab keine antwort, sondern sagte nur: »Schlaf weiter, Lena!«
    Die Magd drehte ihm den Rücken zu und schlief wieder ein. Hofmeister jedoch war hellwach. Da war er wieder, der Traum, der keiner war. Er konnte sich noch genau an die Hitze erinnern, die an jenem Tag im august 1514 in Stuttgart geherrscht hatte. Damals, als viel Blut floss, da der Plan des jungen Jörg Tiegel verraten wurde. Ein Plan, den er, Daniel Hofmeister, befohlen hatte. Damals, als er noch nicht Daniel Hofmeister hieß.
     
    Mit dem Zipfel der Bettdecke wischte sich Hofmeister den kalten Schweiß aus dem Gesicht und atmete mit geschlossenen augen tief ein und aus. Erst als er spürte, dass sein Herz nicht mehr raste, öffnete er die augen wieder.
    Jahrelang hatte er die Erinnerung an das alte Mütterlein verdrängt, sie sogar irgendwann vergessen. Doch nun sah er selbst im Schlaf ihre rot geweinten augen vor sich, glaubte sogar, das Blut riechen zu können, das sich in großen Pfützen um den Henkersklotz gesammelt hatte.
    ›Zum Glück hatte sie nicht mehr den anblick des aufgespießten
Kopfs ihres Sohns ertragen müssen‹, dachte Hofmeister bitter und wusste doch, dass es kein Trost war. Die Greisin hatte sich damals, in der Nacht zum 9. august, in der Nähe des Kruzifix am Ilgenzwinger erhängt.
     
    Starr blickte Hofmeister in das dunkle Zimmer. Er wusste, dass er keinen Schlaf mehr finden würde, und verließ leise die Kammer.
    Im Hof sog er die kühle Luft in die Lungen und musste husten. »Verdammt, Kilian!«, haderte Hofmeister. »Warum musstest du kommen? Jahrelang habe ich nicht mehr an die Vergangenheit gedacht!« Und Hofmeister fragte sich, ob ihn nun sein früheres Leben eingeholt hatte.
    Er stand gebeugt da, die Hände in den achselhöhlen vergraben, und fühlte sich alt und kraftlos. Ihn fröstelte. Zurück im Haus setzte er sich in der Küche dicht vor den Herd, in dem ein Rest Glut eine heimelige Wärme verströmte. Gedankenverloren rieb er die Handflächen aneinander.
    Würden ihn im alter all die Toten im Traum aufsuchen, die seinetwegen ihr Leben gelassen hatten?
    ›Ich habe niemanden gezwungen mir zu folgen!‹, versuchte er sich zu beruhigen. ›Freiwillig waren sie gekommen, denn sie wollten genau wie ich ihr armseliges

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