Gabriel - Duell der Engel
dass unter einem nichts als Leere ist. Dass man jederzeit fallen könnte, sobald man sich nur einen Millimeter zu weit nach vorne neigt. Okay, vielleicht sollte man es erst ausprobieren, wenn man weiÃ, dass man ohnehin schon tot ist. Liebe Kinder, macht das bitte nicht zu Hause nach. Lasst euch von euren Eltern dabei helfen!
Mein Lieblingswolkenkratzer war grau, besonders hässlich und lag relativ zentral in Frankfurt. Er war mittelhoch, wahrscheinlich irgendein Geschäftsgebäude, und stach aus der übrigen Masse nur insofern hervor, dass er besonders unscheinbar war. Und vielleicht besonders hässlich. Ich weià nicht, ob ich eine Vorliebe für das Hässliche habe. Vielleicht. Vielleicht, weil es nur mir zu gehören scheint. Vom Rest der Welt vergessen. Nicht beachtet. Mit Abscheu von oben herab für den Bruchteil einer Sekunde betrachtet, bevor man sich dann schnell anderen Dingen zuwendet. Schönen Dingen. Keine Ahnung, ist ja auch egal.
Ich saà also auf meinem besonders grauen, besonders hässlichen Wolkenkratzer und dachte nach. Wie zu oft in letzter Zeit.
Was war das in der Schule gewesen? Verlor ich langsam den Verstand? Sonjas Freundin ging es gut. Offensichtlich. Aber was hatte ich dann ⦠gesehen? Eine ⦠Vision? ScheiÃe, klingt das schräg. Einen ⦠Wunsch? Ãh, nein, so bin ich nicht drauf. Zum Glück.
Also, offensichtlich hatte ich es mir nur eingebildet. Gut. Nein, nicht gut! Schlecht! Wenn ich es mir tatsächlich nur eingebildet hatte, hieà das, dass ich irgendeine Schraube locker hatte. Aber andererseits: Immer noch besser, ich bildete es mir nur ein, als wenn es tatsächlich passiert wäre. Ich bin kein Mörder! Egal, was die Bilder behaupten. Zu solchen Taten wäre ich gar nicht fähig. Echt nicht!
Gut, dann hätten wir geklärt, dass die Vision, die Einbildung, der Traum, was auch immer, nichts zu bedeuten hatte. Schön. Nächster Punkt der Tagesordnung: Wie war ich in die Krankenstation gekommen? Hatte Sonja mir geholfen? Sonja! Was war mit ihr? Wo war sie jetzt? Blöde Frage, in der Schule natürlich! Nicht so wie ich â¦
Ich fasste einen neuen Entschluss: Sobald die Schule offiziell vorbei war, würde ich sie abfangen. Irgendwo. Vielleicht in ihrer StraÃe. Vor ihrem Haus. Den Weg ging sie meistens mit mir, und da ich jetzt nicht bei ihr war, wohl allein.
Dann würde ich sie sehen. Würde ihr alles erklären können. Na ja, fast alles. Würde zumindest mit ihr reden. Mich entschuldigen. Für was auch immer. Ihr sagen, dass ich sie brauchte. Nicht mehr ohne sie leben konnte. Sie liebte.
Gut, ich hatte einen Plan. Okay, vielleicht ist »Plan« etwas übertrieben, aber immerhin wusste ich, was ich konkret als Nächstes machen würde und das ⦠weià ich sonst nicht so oft.
Ich nutzte eine gerade vorbeiziehende Böe, um Aufwind zu bekommen und schwang mich vom Dach. Bis zum Nachmittag würde ich einfach noch ein bisschen umherfliegen. Den Wind die Gedanken durchwirbeln lassen. Bevor ich endlich Sonja wiedersah.
Mein Herz überschlug sich vor freudiger Erwartung, hüpfte mir bis zum Hals und in der idiotischen Panik, es könne hinausfallen, presste ich Lippen und Zähne fest zusammen, so fest, dass ich plötzlich auf meiner Zunge Blut schmeckte. Ich glaube, in diesem Moment hätte es nichts gegeben, was mir egaler gewesen wäre.
Notizen
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Domino
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Ein Stein kippt und trifft einen anderen. Der andere kippt und trifft wieder einen anderen. Dieser kippt und trifft nochmals einen anderen. Das ist das System von Domino. Du baust mit viel Mühe und Arbeit eine lange Schlange, vielleicht sogar ein ganzes Feld aus Dominosteinen, um sie dann eines Tages alle umzuwerfen â und das nur, indem du einen einzigen Stein ganz leicht antippst. Wenn ich mir vorstelle, dass ein einziges leichtes Fingertippen an einen Stein ausreicht, um eine ganze Reihe, vielleicht sogar eine ganze Fläche aus mühselig aufgebauten Steinen umzustoÃen, bekomme ich Angst. Nur Sekunden brauchen die Steine, um die Arbeit von Tagen zu zerstören. In nur wenigen Augenblicken liegen sie, vorher noch stolz und stramm dagestanden, in ordentlichen Grabreihen auf dem Boden. Der Anblick eines solchen zerstörten Dominofeldes macht mich traurig.
Doch das sind nur die einseitigen. Es gibt auch Steine, die sind doppelseitig bemalt. Aufgestellt ergeben sie ein Bild. Dann
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