Gabriel oder das Versprechen
unvorhersehbaren
Ereignisse nicht wie geplant gekommen war.
10
Gabriels Wohnung, Dienstag, 12. Mai,
6.50 Uhr
Gabriel war am Abend zuvor
außergewöhnlich früh zu Bett gegangen. Nach seinem Abendgebet hatte
er noch fast zwei Stunden in dem Werk ›Menschliches,
Allzumenschliches‹ gelesen. Nietzsches Konzept des Übermenschen war
ihm erstmals in ›Also sprach Zarathustra‹ begegnet und hatte ihn
seitdem nicht mehr los gelassen. Noch als Schüler hatte er sich vor
Jahren zunächst mit dem ›homme superieur‹ in den Philosophischen
Schriften von Claude Adrien Helvetius auseinandergesetzt, sich aber
von ihm abgewandt, weil dessen Atheismus nicht in Einklang zu
bringen war mit seinem eigenen fanatischen Glauben an Gott. Aber
vom Konzept des Übermenschen blieb er fasziniert.
*
Gegen Mitternacht fiel Gabriel das
Buch schließlich aus der Hand. Bis zum frühen Morgen schlief er
tief und fest. Von Ferne hörte er die Kirchturmuhr fünf mal
schlagen und glitt - wie so oft in letzter Zeit - hinüber in einen
Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Sein ganzer Leidensweg bis
kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag zog in Bildern und kurzen
Episoden wie im Zeitraffer an ihm vorüber. Es war eine Zeitreise in
die Vergangenheit. Wieder und wieder von schrillen,
markerschütternden Schreien begleitet tauchten die Ereignisse aus
der Tiefe seiner Erinnerung empor. Und immer begann die Zeitreise
mit demselben Bild.
*
Er sah sich als Zwölfjähriger am
Grab seiner Mutter stehen. Sie, die er liebte, wie keinen anderen
Menschen auf der Welt, hatte ihn verlassen. War aus Verzweiflung
freiwillig aus dem Leben geschieden und hatte ihn allein
zurückgelassen. Allein mit einem schwachen Vater und einer
herrischen Witwe, die die Wohnung nebenan mit ihrer Tochter Maria
bewohnte, die nur ein halbes Jahr älter war als er
selbst.
Auf dem nächsten Bild, das er vor
sich sah, war er dreizehn. Das Trauerjahr war vorüber. Die
Nachbarin hatte ihre Wohnung aufgegeben, war mit Maria zu ihnen
gezogen und hatte seinen Vater geheiratet.
*
Gabriel warf sich unruhig hin und
her. Er stöhnte laut auf, als ergriffe ihn eine unbändige Furcht
vor dem, was sich nun unausweichlich seiner bemächtigen würde, die
Erinnerung an Maria, die Erinnerung an unerfüllte
Träume.
*
So sehr er seine Stiefmutter auch
hasste, der er die Schuld am Freitod seiner Mutter gab, so sehr
fühlte er sich doch zu ihrer Tochter Maria hingezogen. Sie spürte
seine Zuneigung, sein Verlangen, aber auch seine Scham. Und sie
kostete ihr Wissen um seine Gefühle aus. Sie besaß den lolitahaften
Instinkt einer Kind-Frau und machte ihn zum Spielball ihrer
Wünsche, indem sie seine Hoffnung nährte. Wann immer der Zufall es
wollte, gönnte sie ihm den Anblick ihrer voll entwickelten, großen
Brüste. Und gelegentlich half sie dem Zufall auf die Sprünge. Im
Bad verrutschte das Handtuch, wenn sie aus der Dusche stieg. Im
Wohnzimmer suchte sie mit nur spärlich zugeknöpfter Bluse auf dem
Fußboden nach scheinbar Verlorenem, wenn er in ihrer Nähe war. Oder
sie stürmte mit nur einem Slip bekleidet in sein Zimmer und mimte
Überraschung, ihn anzutreffen. Maria ging ihm nicht mehr aus dem
Sinn.
Sie beherrschte seine Gedanken und
sein Handeln. Sie war die Herrin seiner Träume. Aber die
Befriedigung, die er durch sie erlangte, war immer nur von kurzer
Dauer. Er wollte nicht nur das Bild von ihr in seinen nächtlichen
Phantasien, er wollte sie selbst.
Maria wusste um seine Seelenqualen
und verstand, sie für sich zu nutzen. Er war ihr Sklave, ihr
verschwiegener Sklave. Indem er tat, was sie ihm auftrug, war er
ihr nah und konnte hoffen, ihr irgendwann noch näher zu sein oder
gar von ihr erhört zu werden. Er wurde zum Boten zwischen ihr und
ihren zahlreichen Liebhabern, von deren Existenz seine Stiefmutter
und sein Vater nichts wissen durften und dank seiner Vorsicht und
Diskretion auch nichts erfuhren. Wenn sie ihn brauchte, war er da.
Wenn es nötig war zu lügen, log er für sie. Wenn sie bei einem
ihrer Liebhaber war, litt er still vor sich hin. Wie ein
geprügelter Hund, seinem Frauchen treu ergeben.
*
Gabriel drehte sich auf den Bauch,
presste seinen Kopf in das Kissen und hielt sich mit ihm die Ohren
zu, als könne er so alles abwehren, was sich seiner halbwachen
Sinne bemächtigte. Dann - wie um die Bilder abzuwehren, die er doch
nicht verhindern konnte - stemmte er seine gespreizten Hände in die
Luft, der Last entgegen, die ihn zu erdrücken drohte.
*
Es war
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