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Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Voosen
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wurde ihm dennoch
genommen. Die Mauern blieben ihm nicht erspart. Zumindest empfand
er es so. An die Stelle des Staates war die Kirche getreten. Sein
Gefängnis wurde ein nur Jungen zugängliches Jesuiten-Internat im
tiefsten Niederbayern. Hierhin hatte seine Stiefmutter ihn - den
Mörder ihrer Tochter, wie sie nicht aufhörte, ihn zu nennen - gegen
den Willen seines Vaters verbannt. Sein Vater war zu schwach, sich
ihrem Willen zu widersetzen. So fehlte ihm auch die väterliche
Liebe, die ihn hätte zur Umkehr bewegen können. Er wandte sich ab
von den Menschen, mehrte seinen Glauben in der Hinwendung zu Gott
und unterwarf sich ihm völlig. Begierig las er die Heilige Schrift.
Das erste Kapitel des Lukas-Evangeliums wurde sein ganz
persönliches Glaubensbekenntnis. Alles, was in ihm über die
Jungfrau Maria geschrieben stand, sog er in sich auf. Sie war für
ihn der Inbegriff der Reinheit. Der Gegensatz zu der weltlichen
Maria, die ihn geknechtet hatte und die für ihn zum Sinnbild der
Verderbnis geworden war. Ihr Tod war nur Gerechtigkeit, Sühne für
all die Sünden, die sie begangen hatte. Und so schwor er auf die
Bibel, wann immer Gott ihm den Befehl geben würde, die Sünderinnen
von ihren Sünden zu befreien, der Gerechtigkeit zum Sieg zu
verhelfen. Von Stund an sah er sich als Bote und Racheengel Gottes
und gab sich den Namen Gabriel.
    *
    Nach dieser Nacht voller Angst und
Seelenqual, in der sein Leidensweg einmal mehr zwischen Traum und
wachen Phasen an ihm vorübergezogen war, wachte Gabriel
schweißgebadet auf. Sein Nachthemd, das er trug, war feucht und
kalt. Das Bettlaken war vom Schweiß durchtränkt. Er fühlte sich wie
gerädert.
    Als er wieder in der Wirklichkeit
angekommen war, stand er auf und duschte. Lange stand er unter dem
warmen Wasserstrahl. Danach duschte er sich kalt ab, rieb sich mit
einem groben Handtuch trocken und legte sein Büßerhemd
an.
    Er ging zum Altar und kniete nieder.
Noch beladen von den traumdurchwirkten Bildern seiner Jugend, die
sich in seine Seele gebrannt hatten und zentnerschwer auf ihr
lasteten, wollte er Buße tun und flehen, dass auch denen vergeben
wird, die wie er gesündigt hatten, aber nicht Buße tun wollten. Er
hob sein Haupt, schaute in das Antlitz Jesu und begann laut zu
beten: »Oh Herr, ich habe gesündigt. Darum spreche ich mich
schuldig und tue Buße in Staub und Asche.« Er verharrte einen
Moment in dieser Pose, senkte demütig den Blick, sprach Sätze aus
dem Lukas-Evangelium und ergänzte mit eigenen Worten, was ihn
bewegte: »Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder,
der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht
bedürfen. Ich habe ihr Zeit gegeben, dass sie sollte Buße tun für
ihre Hurerei; und sie tat nicht Buße. Und auch die übrigen Leute
taten nicht Buße für die Werke ihrer Hände. Oh Herr, mein Gebieter,
verzeih ihnen, wie du auch mir verziehen hast. Höre sie an, auch
wenn sie nicht Buße tun. Wenn du, Herr, es willst, werde ich sie
mit deiner Hilfe auf den richtigen Weg geleiten. Die Sünden, die
sie begangen, sollen gesühnt werden. Du hast mich auserwählt, ihre
Sünden durch den Tod zu sühnen. Ich werde dein folgsamer Diener
sein!«

 
    11
    Polizeipräsidium Wuppertal,
Dienstag, 12. Mai, 9.20 Uhr
    Das Besprechungszimmer der
Mordkommission platzte aus allen Nähten. Aus den benachbarten
Räumen waren zusätzliche Stühle herangeschafft worden, damit
wenigstens jedes Mitglied der inzwischen einberufenen
Sonderkommission eine Sitzgelegenheit hatte. Nach erster
Einschätzung ließ die grausame Ausführung der Tat darauf schließen,
dass als Motiv Rache oder Eifersucht in Betracht kamen. Außerdem
stand zweifelsfrei fest, dass bei der Tat ein - seit der Novelle
des Waffengesetzes im September 2004 in Deutschland verbotenes -
Faustmesser benutzt worden war.
    »Meine Damen, meine Herren«,
eröffnete der Leitende Oberstaatsanwalt, Herr Dr. Arnold Wehmayer,
mit leichter Verspätung seine für neun Uhr einberufene Besprechung.
»Die wesentlichen Fakten sind Ihnen allen bekannt. Ergänzen möchte
ich die neuesten Details, damit Sie alle auf demselben Stand sind.
Die Tat wurde grausam und mit offensichtlich großer Wut durch eine
größere Anzahl von Stichen ausgeführt. Sämtliche Stiche verteilen
sich auf den Bereich beider Brüste, überwiegend aber auf die
Herzgegend. Die linke Brust wurde geradezu - ich muss es so
drastisch formulieren - zerfetzt. Als Tatwaffe wurde ein
Faustmesser verwendet. Und das ist

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