Gabriel oder das Versprechen
an einem Sonntagmorgen im
Hochsommer, zwei Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag. Sein Vater
und seine Stiefmutter hatten gerade die Wohnung verlassen, um wie
üblich in die Kirche zu gehen. Maria hatte ihm aufgetragen, sie
sofort danach zu wecken, denn sie wollte die Zeit zu einem
Schäferstündchen im Freien nutzen, wie sie ihm am Abend zuvor
unverblümt offenbart hatte. Behutsam betrat er ihr Zimmer, ohne
anzuklopfen. Sie lag bloß gestrampelt völlig nackt auf ihrem Bett,
wie er sie noch nie gesehen hatte. Er setzte sich vorsichtig auf
einen davor stehenden Hocker, ohne dass sie erwachte. Sein Blick
glitt über ihren makellosen jungen Körper hinauf zu ihren steil
aufgerichteten Brüsten. Er spürte, wie sie ihn erregte und wie sein
Verlangen wuchs. Als er seine Hose öffnete und sein erigiertes
Glied umfasste, schlug sie die Augen auf. Er erschrak und glaubte,
sie würde schreien.
*
Hätte sie geschrien, er hätte es
ertragen. Aber sie schrie nicht. Hätte sie geflucht und ihn
hinausgeworfen, er hätte auch das ertragen. Aber sie warf ihn nicht
hinaus. Sie sah ihn an und lachte gellend. Sie lachte ihn aus. Sie
hörte überhaupt nicht auf zu lachen. Das ertrug er nicht. Mit aller
Kraft presste er ihr seine Hände auf Mund und Nase. Sie rang nach
Luft, stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, strampelte mit
den Beinen wild in der Luft herum, packte gleichzeitig seine
Handgelenke und versuchte seine Hände wegzureißen. Doch
unerbittlich drückte er nur noch fester zu. In einem letzten
Aufbäumen kratzte sie ihn an seinen Oberarmen und versuchte, ihm
ihre Finger in die Augen zu stechen. Doch dann erlahmte ihre Kraft.
Ein Zucken durchlief ihren Körper, als ob die Seele entflohen sei.
Stille herrschte. Er ließ von ihr ab, sah in ihr vom Todeskampf
gezeichnetes, angstverzerrtes Gesicht und schien nicht zu
begreifen, was geschehen war. Mit einem herzzerreißenden Schrei
packte er ihre Schultern und schüttelte sie, als ob er sie aus
tiefem Schlaf erwecken
könne.
Sein Vater und seine Stiefmutter
fanden ihn nach dem Kirchgang, wie er zusammengekauert vor Marias
Leiche kniete und inbrünstig betete. Immer wieder stammelte er die
Worte: »Oh, mein Gott, was hab ich nur getan? Wie konnte ich das
bloß tun?« Die Tränen ergossen sich über sein knabenhaftes Gesicht,
das er in seinen Händen vergrub. Er flehte Gott an und bettelte:
»Bitte, bitte, lieber Gott, hilf mir! Schick mich nicht ins
Gefängnis! Alles, was du von mir verlangst, will ich tun. Ich werde
dein treuer Diener sein! Aber bitte schick mich nicht ins
Gefängnis!« Sein Vater war wie vom Donner gerührt. Unfähig,
irgendetwas zu sagen stand er - wie zur Salzsäure erstarrt - am
Fußende von Marias Bett, wollte und konnte nicht verstehen, was er
sah. Seine Stiefmutter hingegen stürzte sich auf ihn, schlug
erbarmungslos mit ihrer Handtasche auf ihn ein und schrie immer
wieder: »Du Mörder, du perverses Schwein! Im Gefängnis sollst du
verrecken und deine Sünden in der ewigen Hölle büßen!«
*
Immer noch im Zustand zwischen Traum
und Wirklichkeit wälzte Gabriel sich erneut hin und her, sah das
fratzenhaft verzerrte Gesicht seiner Stiefmutter. Gelegentlich
schrie er voller Entsetzen auf, aber die Vergangenheit hielt ihn
fest in ihren Klauen. Sie erbarmte sich seiner nicht, ließ ihn
nicht in die Gegenwart entfliehen. Unerbittlich presste die
Vergangenheit ihn nieder auf sein Laken, ließ auch noch die Zeit
der nächsten beiden Jahre nach Marias Tod episodenhaft an ihm
vorüberziehen.
*
Anfangs glaubte er, Gott habe sich
seiner erbarmt und sei ihm gnädig gewesen: »Du hast meine Gebete
erhört und mich nicht ins Gefängnis werfen lassen, lieber Gott.
Dafür danke ich dir und schwöre bei meinem Leben, künftig nur noch
dir zu dienen. Wann immer du mich brauchst, werde ich da sein, um
deinen Willen auf Erden zu vollziehen«, endeten von nun an seine
Gebete, wann immer er seinen Herrn anrief.
In seiner Beichte, die er drei Tage
nach der Tat ablegte, hatte der Pfarrer ihm zu erklären versucht,
dass ihm die Gnade der späten Geburt zuteil geworden sei. Den Sinn
dessen hatte er nie verstanden und die Worte des Pfarrers auch bald
vergessen. Im Gedächtnis aber geblieben war ihm der Satz, der immer
wieder laut und vernehmlich wie ein Fanfarenstoß aus weiter Ferne
an sein Ohr drang: »Nicht verantwortlich für sein Tun!« Die vom
ermittelnden Kommissar ausgesprochenen Worte, die ihm das Gefängnis
ersparen sollten.
Die Freiheit
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